Aus dem Möglichen das Beste machen – das war immer meine Maxime 2. Juni 20242. Juni 2024 Ein Interview mit dem ehemaligen Ersten Beigeordneten Dr. Andreas Jürgens 12 Jahre lang war Dr. Andreas Jürgens die politische Spitze der Verwaltung im Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen. Im Interview blickt er zurück auf Herausforderungen und Erfolge dieser Zeit und erläutert, warum der LWV für das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderungen so wichtig ist und daher unbedingt erhalten werden muss. Nicht bevormundet zu werden: Das war dem Rollstuhlfahrer schon als junger Mensch wichtig – und so ist Jürgens‘ Lebensweg auch eng mit der emanzipatorischen Behindertenbewegung verknüpft. Herr Jürgens, in Ihrem Lebenslauf findet sich kein Hinweis darauf, dass Sie Rollstuhlfahrer sind und körperliche Einschränkungen haben. Was sagt uns das über den Menschen Andreas Jürgens? Dass Ihre Behinderung Privatsache ist – oder eine Nebensache? Sie ist für mich schlicht gelebter Alltag. Ich wache nicht jeden Morgen auf und denke mit Schrecken: Ich sitze im Rollstuhl! Ich verschweige oder verstecke meine Behinderung auch nicht, aber in meinem Lebenslauf ist sie von keiner Relevanz. Denn ich bin nicht wegen meiner Behinderung, sondern aufgrund meiner Erfahrungen und meiner Expertise zum Ersten Beigeordneten des LWV gewählt worden. Das gilt auch für meine Wahl in den Hessischen Landtag und die Ernennung zum Richter am Amtsgericht. Ein bemerkenswerter Lebensweg, wenn man bedenkt, dass Sie in einer Zeit groß und erwachsen geworden sind, in der das Wort Inklusion allenfalls in Fachkreisen bekannt war und die Aktion Mensch noch Aktion Sorgenkind hieß… Das stimmt. Als mein Bruder und ich zwei Monate zu früh mit Glasknochen auf die Welt kamen, haben die Ärzte meinen Eltern empfohlen, uns direkt in ein Heim zu geben. Mit der Begründung, dass wir das Schulalter ohnehin nicht erreichen würden. Aber so haben meine Eltern nie gedacht. Nach jedem Knochenbruch haben sie uns so schnell wie möglich wieder aus dem Krankenhaus geholt, sie haben dafür gekämpft, dass wir in die Volksschule und nicht in die Sonderschule – so hieß das damals noch – eingeschult werden und sie haben uns von Anfang zu Selbständigkeit und selbstbestimmten Entscheidungen erzogen. Und so sind mein Bruder und ich dann zum Jura-Studium von Salzgitter nach Marburg gezogen. Ab dem Studium waren Sie in behindertenpolitischen Initiativen aktiv. Für welche Ziele bzw. gegen was haben Sie sich damals genau engagiert? Die paternalistische Fürsorge war mir schon immer suspekt, da sie oft nur Bevormundung ist. Das Denken in der Gesellschaft war damals: „Die müssen versorgt werden“ – und das ist das Gegenteil von selbstbestimmten Leben. Zu Schulzeiten hatte ich allerdings nur wenig Kontakt zu anderen Menschen mit Behinderung, abgesehen von ein paar Treffen und Freizeiten, die die Kirche organisiert hatte. Das änderte sich mit dem Studium: Die Behindertenbewegung in Deutschland wurde seit Anfang der 70-er Jahre größer und sichtbarer. Der Frankfurter Journalist Ernst Klee warf mit seinem „Behindertenreport“ einen emanzipatorischen Blick auf die Behindertenbewegung, was mich sehr geprägt hat. Klee organisierte außerdem mit dem Aktivisten Gusti Steiner einen „Volkshochschulkurs“, in dem Menschen mit Behinderungen lernen sollten, selbst ihr Leben in die Hand zu nehmen und ihre Lage zu verbessern. 1980 gab es dann in Frankfurt eine große Demonstration gegen das so genannte Reise-Urteil: Eine Frau hatte geklagt, dass ihr Urlaub durch eine Gruppe von Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung beeinträchtigt gewesen sei. Dafür wurde ihr vom Gericht eine teilweise Rückerstattung des Reispreises zugesprochen. Das war die Zeit, in der wir in Marburg eine Hochschulgruppe gründeten, uns beim „Krüppel-Tribunal“ 1981 gegen Diskriminierung in vielen Lebensbereichen positionierten und viele kleinere Aktionen starteten. Wie haben Sie von dort den Weg zu den Grünen gefunden? Mitglied bei den Grünen bin ich erst Jahre später geworden, nämlich 1994, als ich das erste Mal für den Bundestag kandidiert habe. Aber den Grünen war es in ihren Anfängen ein Anliegen, die sozialen Bewegungen in die parlamentarische Arbeit einzubinden – eben auch die Behindertenbewegung. So habe ich zu Beginn der 80-er Jahre als Rechtsreferendar für die grüne Bundestagsfraktion einen Gesetzentwurf für ein Pflegeleistungsgesetz geschrieben, nachdem ich mich in meiner Promotion schon mit den Leistungen und Lücken befasst hatte. Zudem habe ich in der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik der Grünen mitgearbeitet. Aus unserer Sicht – also der Behindertenbewegung – waren die Grünen die einzigen, die sich für unsere emanzipatorischen Ideen eingesetzt haben. Was ist sonst noch grün an Ihnen? Ich bin sicher kein Klischee-Grüner, der für vegetarisches Essen und Fair Trade steht. Was nicht heißt, dass mir Umweltpolitik nicht wichtig wäre! Aber was mich bei den Grünen immer beeindruckt hat, ist die hohe Akzeptanz gegenüber den unterschiedlichen Lebensformen der Menschen. Ob jemand verheiratet ist oder nicht, welche sexuellen Beziehungen jemand hat, welche Religion oder welche Hautfarbe – hier wird nichts vorgeschrieben, nichts bewertet. Und das war auch immer mein Hauptanliegen in Bezug auf Menschen mit Behinderung. Sie waren zwischen 2003 und 2012 Abgeordneter im Hessischen Landtag und Sie waren Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Kassel. Was waren bzw. sind dort Ihre Themen? In der Stadtverordnetenversammlung kümmerte ich mich um Rechts- und Sozialpolitik. Im Landtag war ich ebenfalls für Rechtspolitik zuständig, wobei ich mich auf die Gleichstellung konzentriert hatte, sowohl von Menschen mit Behinderung als auch von Schwulen und Lesben. Ich habe damals z.B. einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung eingetragener Partnerschaften mit der Ehe eingebracht. Ein wichtiger Schritt war 2008 das von mir initiierte Gesetz, mit dem die Zuständigkeit für das betreute Wohnen behinderter Menschen in der eigenen Häuslichkeit komplett dem LWV übertragen wurde. Es ist die Grundlage dafür, dass das betreute Wohnen später vom LWV so gut ausgebaut werden konnte. Als Sie 2003 erstmals in den Landtag eingezogen sind, waren Sie der erste Abgeordnete im Rollstuhl. Wie stand es damals um die Barrierefreiheit? Der Landtag ist im Stadtschloss in verschiedenen Gebäuden auf unterschiedlichen Ebenen untergebracht, und der alte Plenarsaal war nur über mehrere Stufen erreichbar. Aber weil ich als gewählter Abgeordneter den rechtlichen Anspruch hatte, an allen Versammlungen teilnehmen zu können, musste gehandelt werden. Es wurde eine lange Rampe eingebaut und das vorhandene Rednerpult durch ein höhenverstellbares ersetzt. Um von meinem Büro in andere Räume bzw. Gebäude zu kommen, musste ich gelegentlich Umwege nehmen – aber es ging. Im Jahre 2012 wurden Sie erster Beigeordneter des LWV. Was war Ihre Motivation, sich zur Wahl zur stellen – und mit welchen Zielen sind Sie damals angetreten? Ich war zuvor schon fünf Jahre lang Abgeordneter in der Verbandsversammlung (VV) des LWV. Die VV wird auch Hessisches Sozialparlament genannt, sie ist das oberste Organ des Verbandes. Ich kannte die Arbeit des LWV also schon gut und war überzeugt, dass ich als politische Spitze der Verwaltung meine politischen Überzeugungen, meine rechtliche Expertise und meine eigenen Erfahrungen sehr gut einbringen kann. Auch mein Ziel war klar: Die Personenzentrierung bei der Leistungserbringung, die meine Vorgängerin angestoßen hatte, wollte ich vorantreiben und beschleunigen. Altgediente Abläufe und Strukturen zu verändern, ist nie einfach – da war es eine große Hilfe, dass 2016 das Bundesteilhabegesetz erlassen wurde. Das hat der Personenzentrierung Rückenwind gegeben. Wie würden Sie jemanden, der noch nie vom LWV gehört hat, erklären, was der LWV ist und macht? Der LWV ist ein höherer Kommunalverband, der die Aufgabe hat, die Eingliederungshilfe umzusetzen. Zugleich ist er Integrationsamt und Träger von Förderschulen für sinnesbehinderte Kinder. Hm. Könnten Sie es mal in Leichter Sprache versuchen? Der LWV hilft behinderten Menschen dabei, ihr Leben eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu leben. Wenn Sie auf Ihre 12 Jahre beim LWV zurückblicken, was sehen Sie dann als Ihren größten Erfolg? Am augenfälligsten ist, dass damals ungefähr 2/3 der leistungsberechtigten Menschen in stationären Einrichtungen – also in Heimen – gelebt haben und nur 1/3 in einer eigenen Wohnung. Oder wie es in der Fachsprache heißt: in der eigenen Häuslichkeit. Heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Das bedeutet, dass tausende von Menschen mit Behinderung selbständiger und selbstbestimmter leben können! Und auch die Heime sind nicht mehr vergleichbar mit früher: Sie sind kleiner, liegen zentraler, die Infrastruktur ist besser. Allerdings vermute ich, dass die Menschen selbst diese positiven Veränderungen nicht dem LWV zuschreiben – denn sie haben ja keinen direkten Kontakt zu uns, sondern zu den Leistungserbringern. Umgekehrt bekommt der LWV aber auch Kritik ab, zuletzt gab es viele Klagen über den Personenzentrierten Integrierten Teilhabeplan (PIT), der zu bürokratisch sei und eine Reduzierung der Leistungen zufolge habe – zu Lasten eines selbstbestimmten Lebens. Trifft Sie diese Kritik? Es ist richtig, dass der PIT an manchen Stellen noch Probleme macht. Wir bemühen uns aktuell, das Instrument alltagstauglicher zu machen und ich bin zuversichtlich, dass wir das bald in den Griff bekommen. Was die Leistungen angeht: Es gibt die gesetzliche Vorgabe, mit einem Bedarfsermittlungsinstrument zu arbeiten. Das Ziel von PIT ist aber genau das, was in seinem Namen liegt, nämlich bedarfsangemessene Leistungen zu erhalten. Wenn jetzt jemand weniger Leistungen erhält, dann nur, weil bisher zu viele Leistungen bezogen wurden. Keine Frage: Herauszufinden, was passgenau – also nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig – ist, ist manchmal nicht ganz leicht. Ich persönlich halte es für wichtig, auch in das Entwicklungspotenzial eines Menschen zu vertrauen und ihm nicht alles abzunehmen. Ich erinnere nur an den Fahrdienst der Werkstätten: Viele, die zu Schulzeiten selbstverständlich Bus und Bahn benutzt haben, verlernen das wieder, weil der Fahrdienst sie von Tür zu Tür bringt. Und zumindest meine Erfahrung ist: Die schönsten Erfolge sind jene, die man selbst erreicht hat! Apropos Erfolge: Kennen Sie auch die Misserfolge, die viele Menschen mit Behinderung oder ihre Angehörige erleben, wenn beispielsweise Anträge abgelehnt werden? Oder die Mühsal, den Frust und das Gerangel mit Krankenkassen und Ämtern? Ich glaube, dass ich damit besser zurechtgekommen bin als viele andere. Unsere Eltern haben darauf bestanden, dass wir unseren BaföG-Antrag selbst ausfüllen – frühe Übung also. Als Jurist habe ich dann verstanden, warum bestimmte Daten abgefragt werden. Und meine Einstellung war immer: Wenn ich öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen möchte, muss ich das auch gut begründen. Ich habe vielfach Glück gehabt, aber ich bin auch schon vor Gericht gezogen. Mal habe ich gewonnen, mal verloren. Was wünschen Sie dem LWV für die Zukunft? Und welchen Auftrag geben Sie den grünen Kollegen und Kolleginnen mit auf den Weg? Der LWV muss erhalten bleiben, dafür sollten sie sich einsetzen. Ich bin froh, dass wir einen LWV haben, der sich ausschließlich um die Anliegen von Menschen mit Behinderungen jenseits des Schulbesuchs kümmert – statt einer Zersplitterung der Zuständigkeiten und Aufgaben, wie wir sie in anderen Bundesländern sehen und früher auch in Hessen hatten. Inhaltlich steht an, die Leistungs- und Finanzierungsstrukturen zu etablieren, die wir in den Rahmenverträgen mit den Leistungserbringern vereinbart haben. Abgesehen davon geht es aber um Konsolidierung: Wir brauchen aktuell keine neuen Ideen, sondern müssen die vielen Veränderungen der letzten Zeit vernünftig umsetzen und verankern. Sie waren 17 Jahre lang Richter am Amtsgericht, dann 9 Jahre im Landtag und zuletzt 12 Jahre an der Spitze des LWV. Was war die beste Zeit – oder anders gefragt: Welches Amt lag Ihnen am ehesten? Es war alles super! Ich war mit Leib und Seele Richter, mit Leib und Seele Abgeordneter und mit Leib und Seele Erster Beigeordneter beim LWV. Ich habe nie den beruflichen Wechsel gesucht, weil das Alte mir nicht mehr zugesagt hätte, sondern weil die Neugierde auf etwas Neues größer war. So habe ich in allen drei Gewalten gearbeitet – das war sehr abwechslungsreich und interessant! Hatten Sie auf Ihrem Lebensweg eigentlich Vorbilder? Mit Vorbildern ist das so eine Sache… Ich habe mir immer mal was bei Leuten abgeschaut, die etwas besser können als ich – zum Beispiel Reden halten. Sonst ist meine Maxime: Aus dem Möglichen das Beste machen! Diese positive Lebenseinstellung habe ich von meinem Vater. Er war ein humorvoller Mensch, der die Dinge leichtgenommen und sich von Niederlagen nicht aus der Bahn hat werfen lassen. Dr. Andreas Jürgens, Jahrgang 1956, war bis Ende April 2024 Erster Beigeordneter des LWV. Er hatte dieses Amt seit 2012 inne, zuvor war er bereits Abgeordneter in der Verbandsversammlung des LWV. Jürgens ist Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen, für die er zwischen 2003 und 2008 sowie zwischen 2009 und 2012 im Hessischen Landtag saß, außerdem engagiert er sich seit Ende der 90-er Jahre bei den Grünen in Kassel (Vorsitz, Stadtverordnetenversammlung). Vor seinem Einstieg in die Landespolitik war der Jurist 7 Jahre lang Richter am Amtsgericht in Kassel.