Fachtagung „Von der Psychiatrie­reform zum selbst­bestimmten Leben“

Fachtagung "Von der Psychiatriereform zum selbstbestimmten Leben"

50 Jahre Psychiatrie-Enquete / 40 Jahre Grüne im LWV Hessen

Gut 80 geladene Gäste kamen am 28. Juni 2022 in das Ständehaus des Landeswohlfahrtsverbandes nach Kassel. Eingeladen hatte die Fraktion von Bündnis90/Die Grünen im Landeswohlfahrtsverband zu einer Fachtagung mit dem Titel „Von der Psychiatriereform zum selbstbestimmten Leben.“

Anlass für diese Fachtagung waren gleich zwei Festakte. Zum einen „50 Jahre Psychiatrie-Enquete“ und zum anderen „40 Jahre Grüne im Landeswohlfahrtsverband Hessen.“

Michael Thiele, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Landeswohlfahrtverband
Michael Thiele, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Landeswohlfahrtverband

Vor 50 Jahren hat die Psychiatrie-Enquete im Auftrag des Deutschen Bundestages auf über 400 Seiten einen Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland erstellt. Der Bericht kam zu einer insgesamt erschütternden Bilanz. Es wurde darin immer wieder von elenden und zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen in den damaligen Krankenhäusern gesprochen. Der Bericht war der Startpunkt für einem Wandel hin zu einer Einkehr von Humanität und Menschlichkeit in der Unterbringung und Betreuung psychisch kranker Menschen.

Der Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Landeswohlfahrtverband Michael Thiele eröffnete den Abend mit dem politisch hoch aktuellen Begriff der „Zeitenwende“.

So wie aktuell der Krieg in der Ukraine eine Zeitwende für Europa bedeuten würde, so stellte die 1971 vom Bundestag in Auftrag gegebene und 1975 fertiggestellte Psychiatrie-Enquete eine solche Zeitenwende für die Versorgung von psychisch kranken Menschen dar.

Diese Ausgrenzung und Verwahrungspsychiatrie, mit deprivierenden Lebens- und Entwicklungsbedingungen für die Betroffenen selbst, sei gleichermaßen Ausgangspunkt für eine nachhaltige Psychiatrie Reform, sowie Ursache und Antrieb für das Engagement der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen in der Verbandsversammlung des LWV Hessen.

Susanne Selbert, Landesdirektorin LWV Hessen
Susanne Selbert, Landesdirektorin LWV Hessen

Der Wandel nach der Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquete verläuft mitunter langsam und ist noch nicht abgeschlossen. Seit nun über 40 Jahren ist das Mitgestalten dieses Wandels einer der Schwerpunkte der Fraktion von Bündnis90/Die Grünen im Landeswohlfahrtsverband. Seit 2006 sogar in gewachsener Verantwortung, da Bündnis 90/Die Grünen seitdem durchgehend die Position der Ersten Beigeordneten stellen, wie die Landesdirektorin des LWV Hessen Susanne Selbert in ihrem Grußwort zu Beginn der Fachtagung anerkennend bemerkte.

Diese Position des ersten Beigeordneten wird seit 2012 von Dr. Andreas Jürgens besetzt.

„Somit können wir heute auch ein 100-jähriges Jubiläum feiern!

(50 Jahre Psychiatrie-Enquete – 40 Jahre Grüne im LWV und 10 Jahre EB Dr. Andreas Jürgens.)“ rechnete sie vor. Die Landesdirektorin hielt fest, dass die beiden anstehenden Jubiläen „eng miteinander verzahnt“ seien.

Die wichtigste Forderung der Psychiatrie-Enquete damals, sei die nach „Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse“ gewesen. Diese Empfehlungen führten zur Umstrukturierung der großen psychiatrischen Krankenhäuser. Mit einem Blick auf die Struktur und die Aufgabenwahrnehmung durch die Vitos-Kliniken ist Susanne Selbert der Überzeugung, dass dieser Wandel zu einer Erfolgsgeschichte geworden ist.

Es sei heute eine Selbstverständlichkeit, dass für Menschen mit Behinderung eine individuelle Hilfeplanung durchgeführt und damit der personenzentrierte Ansatz mit passgenauen Hilfen umgesetzt wird. Der Anspruch auf Teilhabe, Selbstbestimmung, Sozialraumorientierung, die Umsetzung der Inklusion durch die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes seien für uns heute Selbstverständlichkeiten.

Friedel Kopp, Präsident der Verbandsversammlung LWV Hessen
Friedel Kopp, Präsident der Verbandsversammlung LWV Hessen

Der Präsident der Verbandsversammlung des LWV Hessen Friedel Kopp gab in seinem anschließenden Grußwort einen Überblick über die vergangenen 40 Jahre im LWV. So haben die 40 Jahre Grüne im Landeswohlfahrtsverband Hessen im Dezember 1981 mit dem Einzug der beiden ersten Grünen Abgeordneten Irmela Wiemann und Dorothea Kerschgens in die Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes begonnen. In der darauffolgenden Wahlperiode waren es bereits 5 Abgeordnete der Grünen. Einige Jahre später, in der 11. Wahlperiode waren es schon 9 Abgeordnete und nun in der 17. Wahlperiode „kam die Explosion mit 15 Abgeordneten. Wo soll das noch hinführen?“ fragte Friedel Kopp lachend in den Saal.

Er führte auch auf, welche enorme Entwicklung der Haushalt des Landeswohlfahrtsverbandes genommen hat. Von damals 624 Millionen Deutsche Mark in 1982, dem ersten Haushalt den die Grünen mitgetragen haben, hin zu aktuell 2,079 Milliarden Euro. Der Präsident der Verbandsversammlung bewertet dies durchaus auch als Nachteil für die Träger des LWV’s.

Anne Janz, Staatssekretärin im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration

Die ebenfalls eingeladene Staatssekretärin in Hessische Ministerium für Soziales und Integration Anne Janz konnte leider nicht persönlich an der Fachtagung teilnehmen und richtete ihr Grußwort deshalb per Video an die Gäste. Sie hob darin hervor, dass dieser gesellschaftliche Aufbruch von einer Versorgung,

die damals maßgeblich in psychiatrischen Krankenhäusern stattgefunden hat, bis heute prägend ist. Der Auf- und Ausbau gemeindepsychiatrischer Angebote sorge dabei für eine deutliche Verbesserung. „Ambulant vor stationär ist ein zentrales Credo.“

Als weiteren Meilenstein in der Weiterentwicklung bezeichnet Anne Janz den mittlerweile selbstverständlichen Einbezug von Erfahrenen und Angehörigen. Er trägt dazu bei, den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen angemessen Rechnung zu tragen. Sie hält fest, „Der Wunsch nach Selbstbestimmung ist eine wichtige Leitpanke in der psychiatrischen Versorgung.“

Besorgt zeigt sie sich insbesondere über die kontinuierlich steigende Belegungszahl im Maßregelvollzug. Es seien sicher noch weitere Verbesserungen nötig, diesen Menschen trotzdem so viel Selbstbestimmung zuzugestehen, wie es Ihre Einschränkungen eben erlauben.

Sebastian Schaub, Landesvorsitzender Hessen Bündnis 90/Die Grünen
Sebastian Schaub, Landesvorsitzender Hessen Bündnis 90/Die Grünen

Das letzte Grußwort richtete der Landesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen in Hessen, Sebastian Schaub an die Gäste. Er freute sich außerordentlich, zu diesem besonderen Anlass eingeladen zu sein. Es lägen 40 Jahre hinter den Grünen, in denen man mit den anderen Fraktionen nicht immer einer Meinung gewesen sei, aber dennoch gemeinsam viel erreicht hätte. Eines der wichtigsten Projekte sei zu Beginn gewesen, die Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zu integrieren.

„Die Grünen verstehen sich auch immer ein bisschen als das soziale Gesicht einer Gesellschaft, als die Vertreter derjenigen die betreut werden müssen.“

Sebastian Schaub befürwortet den Schritt in Richtung lokaler Unterbringung und er sei gespannt wie sich dies weiterentwickelt. Ebenso interessant und sehr spannend sei das gemeinsam von Vitos und den Kliniken Weilburg geplante Haus, in dem die somatische und psychiatrische Versorgung zusammengeführt werden soll.

Holger Heupel
Holger Heupel, ehemaliger Fraktionsvorsitzender

Den ersten Fachvortrag an diesem Abend hielt Holger Heupel, der, mit Unterbrechungen, in der Zeit von 1985 bis 2011 mehr als 16 Jahre lang der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im LWV gewesen ist. Außerdem war er über viele Jahre Sprecher der hessischen Gesellschaft für soziale Psychiatrie.

Er trug einen bedrückenden historischen Überblick über den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen seit der Zeit des Nationalsozialismus bis Mitte der 1970iger Jahre vor.

Bereits in der Weimarer Republik hatte sich eine breite rassenhygienische Bewegung rund um das 1927 gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI) formiert. Dessen Direktor zur Zeit des Nationalsozialismus war damals führende Rassenhygieniker Prof. Dr. med. Otmar Freiherr von Verschuer.

Holger Heupel zeigte den Weg von Verschuers auf, von seinem Entwurf des Sterilisationsgesetz, über den Arbeitskreis des Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt. Von dort aus wurden mit den Tötungen in den Heil- und Pflegeanstalten der Krieg gegen die psychisch Kranken zentral gesteuert. Der Weg ging weiter mit Menschenversuchen in den Konzentrationslagern mit Hilfe seines Assistenten Josef Mengele. Nach Ende des Krieges wurde er nur als Mitläufer eingestuft und lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt. Dank seiner Unterstützer, insbesondere aus der evangelischen Kirche, gelang seine Rehabilitation und er wurde sogar Professor an der Universität Münster.

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde die „Rassenhygiene“ mit der maßgeblichen Beteiligung der deutschen Elite in den Wissenschaften und der Beteiligung führender Psychiater zur „Staatsideologie“ aufgewertet.  Chronisch kranke und behinderte Menschen wurden als „Ballast-Existenzen“ entwertet. Die Folge war der systematische Massenmord von Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen, unter maßgeblicher Beteiligung führender Psychiater.

Nach dem Krieg lag die Psychiatrie am Boden. Die verbliebenen Anstalten waren überfüllt und großenteils verrottet. Es fehlte an Personal, an Nachwuchs, es fehlte an allem. Dieser Zustand ging bis Ende der 60er Jahre.

Eine wichtige Wendemarke setzte die Heidelberger Gruppe. Eine Gruppe Psychiater die erkannte, dass auch ohne frühkindliches Trauma neurotische Störungen entstehen können und dass psychotische Störungen nicht im Kern genetisch bedingt sind. Diese Gruppe formulierte bereits 1965 die Grundzüge der späteren Psychiatrie-Enquete.

Ein wesentlicher Wegbegleiter der Psychiatrie-Enquete war auch Walter Picard. In den 60iger Jahren und nochmal Ende der 70iger war er Mitglied der Verbandsversammlung des LWV, später Bundestagsabgeordneter. Er hat es u.a. geschafft den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt für die Psychiatriereform zu gewinnen. So kam es dann zu dem Bericht der Psychiatrie-Enquete über die Lage der Psychiatrie in der BRD.

Ziel war nun die Integration und menschenwürdige Behandlung, Betreuung und Begleitung psychisch Kranker und Behinderter und ihrer Angehörigen in die Gesellschaft mit den Grundgedanken der Dezentralisierung und Kommunalisierung.

Das komplette Fachreferat finden Sie am Ende dieser Seite.

Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter LWV Hessen
Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter LWV Hessen

Den zweiten Fachvortrag des Abends hielt Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Sein Vortrag trug den Titel „Von der Fürsorge zur selbstbestimmten Teilhabe.“

Ein wesentlicher Motor für mehr Emanzipation und Empowerment behinderter Menschen waren Betroffenen selbst.

Von dem Journalisten Ernst Klee, der seit den 70igern mit seinem Eintreten für Randgruppen in vielen behinderten Menschen die Idee der Emanzipation weckte, über mehrere Demonstrationen behinderter Menschen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung wuchs der Drang nach Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Ernst Klee wurde später mit seiner Aufarbeitung der NS-Medizin mit ihren fürchterlichen Menschenversuchen bis zur Euthanasie, besonders wichtig für den LWV und die Gedenkstätte Hadamar, der er sein umfangreiches Archiv hinterlassen hat.

In den 70er Jahren entwickelte sich so etwas wie die emanzipatorische Behindertenbewegung. Z.B. die sich selbst so genannten „Krüppelgruppen“. Sie lehnten die als Bevormundung empfundene Fürsorge durch Nichtbehinderte radikal ab. Auch das UNO-Jahr der Behinderten 1981 wurde von vielen Teilen der Behindertenbewegung als Zumutung war genommen und als das Jahr der „Behinderer“ bezeichnet.

Viele Menschen aus der Behindertenpädagogik fanden in der 1980 gegründeten Partei „Die Grünen“ ihre neue politische Heimat. Schon früh gründete sich die Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik bei den Grünen. Erste Wahlerfolge stellten sich für die damals junge Partei auf kommunaler Ebene ein. So war es nicht verwunderlich, dass 1981 auch zwei grüne Frauen in die Verbandsversammlung gewählt wurden.

Ende der 80er/Anfang der 90er-Jahre trat die Frage der Menschenrechte behinderter Menschen immer mehr in den Vordergrund. Das neue Betreuungsrecht ab 1992 war ein Quantensprung auf dem Weg zur Selbstbestimmung behinderter Menschen. Die Entmündigung wurde abgeschafft, ein Betreuer darf nur für Aufgaben bestellt werden, für die dies erforderlich ist. Mit der vollständigen Überarbeitung ab 2023 soll den Wünschen und Zielen der Betroffenen noch stärkeres Gewicht verleihen werden. Ein Meilenstein folgte 1994 Grundgesetzänderung nach der nun niemand mehr wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.

Dr. Andreas Jürgens initiierte 1991 die Gründung des Forums behinderter Juristinnen und Juristen, dass sich neben dem Einsatz für die Grundgesetzergänzung auch für das Gleichstellungsgesetz behinderter Menschen einsetzte. Daraus entstand dann 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006.

Es wurde bereits vieles erreicht, aber die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte aktive Mitwirkung behinderter Menschen an allem, was wir tun, ist noch längst nicht geschafft.

Der Erste Beigeordnete des LWV schloss den Fachtag mit den Worten: „Wir sehen: auch für die nächsten 40 Jahre gibt es für die Fraktionen in der Verbandsversammlung, gleich welcher politischen Farbe, und natürlich für Verwaltungsausschuss und Verwaltung noch genug zu tun.“

Das komplette Fachreferat finden Sie am Ende dieser Seite.

Fachreferate

Die GRÜNE Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer sagte in ihrem engagierten Begrüßungsvortrag im Jahr 2000 zum 25-jährigen Jubiläum der Psychiatrie-Enquete in Bonn vor versammelter Psychiatrie-Prominenz, erstmals auch mit Beteiligung von Verbänden der Angehörigen und der Psychiatrie-Erfahrenen:

Zitat: „die Psychiatrie-Enquete ist ein Meilenstein in der Geschichte der Reformbewegung der psychiatrischen Versorgung“.

Der ehemalige Vorsitzende der Enquete-Kommission, Prof. Caspar Kulenkampff, stellte damals fest:
„Die Enquete und die Folgen sind eine Erfolgsgeschichte. … Es gibt natürlich nach wie vor Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Positionen, aber eine richtige Gegen-Reformation hat es nicht gegeben.“ 

Ich beginne mit einer Hoffnung, danach muss ich ihnen zunächst sehr Ernsthaftes zumuten:
In 3 Jahren feiern wir das 50-jährige Jubiläum der Psychiatrie-Enquete. Dann wollen wir wieder ähnlich lobende Worte in den Vorträgen hören und Eintrübungen für die Zukunft der psychiatrischen Versorgung nicht auszumachen sind.

In den Jahren 1945 – 1947 musste die Dorfkirmes im Tanzsaal des Gasthauses in Solz, einem kleinen Dorf bei Bebra, ausfallen. Merken Sie sich den Dorfnamen Solz bis zum Ende des Vortrages.

Nein, die Kirmes musste nicht ausfallen, weil der Tanzsaal mit Lazarettbetten für heimgekehrte, traumatisierte Soldaten vollgestellt war. Er wurde auch nicht für Flüchtlinge aus Schlesien reserviert.
Nein, der Tanzsaal war bis in die hinterste Ecke vollgestellt mit Regalen, in denen 1000-te Akten und Präparate fein säuberlich sortiert aufbewahrt wurden.

Hierhin hatte der führende Rassenhygieniker Prof. Dr. med. Otmar Freiherr von Verschuer als Direktor das gesamte, 1927 gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI) gebracht. Aus dem zerbombten Nobelviertel Berlin-Dahlem „mitten hinein“ ins GRÜNE hessische Hügelland, um auch nach dem Krieg mit gezielter rassehygienischen Bevölkerungspolitik eine „Degeneration“ von dem deutschen Volk abzuwenden.  
                                              
In der Weimarer Republik hatte sich schon eine breite rassenhygienische Bewegung im Schlepptau des KWI formiert. Sie wurde getragen von einer breiten Koalition von Sozialdemokraten, über das katholische Zentrum bis in die rechte Ecke des Parteispektrums. Ihr Ziel war es, eine disziplinübergreifende „Leitwissenschaft vom Menschen“ zu entwickeln.

Diese Bewegung wollte sich zunächst bewußt von der völkischen „Münchner Richtung“ mit ihrem dilettantischen Gerede von der Überlegenheit der „nordischen Rasse“ absetzen.       
1936 als von Verschuer zur Universität nach Frankfurt berufen wurde, huldigte er schon dem „Führer des Dt. Reiches. Erst 1940 wurde er Parteimitglied. Zusammen mit seinem Assistenten Josef Mengele war er durch „Selbstgleichschaltung“ als führender Vertreter in die NS-Rassenpolitik eingebunden.

Sein Aufstieg führte ihn vom Entwurf des Sterilisationsgesetz und der Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, über die „Einführung einer Kartei  der Gemeinschaftsunfähigen“ bis in den unmittelbaren Arbeitskreis des Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt. Brandt,  Hitlers Begleitarzt, war verantwortlich für die dezentralen Tötungen in den Heil- und Pflegeanstalten (Aktion Brandt). Von hier aus wurde der Krieg gegen die psychisch Kranken zentral gesteuert.

Von Verschuers sprach offen von seinen sog. wissenschaftliche Forschungen im KZ Auschwitz- Birkenau. Seine Forschungsmaterialen stammten von Josef  Mengele, die er zu diesem Zweck an Menschen „verschiedener geographischer Herkunft“ mit Krankheitserregern infiziert hatte.
Große Teile seines Institutes wurden später in die Max-Plank-Gesellschaft als De-Facto-Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft überführt. Erst 2001 hat dessen Präsident Hubert Markl die Opfer von NS-Verbrechen, die im Rahmen von Forschungen in der KWG begangen worden waren, um Vergebung gebeten.

Otmar Freiherr von Verschuer wurde von einer Frankfurter Spruchkammer im Rahmen der Entnazifizierung als „Mitläufer“ eingestuft und zu einer Buße von 600 RM verurteilt. Robert Havemann, damals kommissarischer Leiter der Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft, protestierte als Einziger gegen diesen Vorgang. Von Verschuers wichtigster Helfer bei seiner Rehabilitierung, die 1951 in seiner   Münsteraner Professur endete – dorthin hatten die Akten aus Solz ihren Weg schließlich gefunden – , war der Frankfurter Pfr. Otto Fricke. Er war zunächst ein „Deutscher Christ“ und hielt die Feuerrede zur Bücherverbrennung auf dem Frankfurter Römerberg. 1934 schloss er sich der Bekennenden Kirche an. Dies war eine regimefeindliche Organisation (Dietrich Bonhoeffer).

Fricke stammte aus einem Dorf (Heinebach) in der Nähe von Solz. Er hatte im April 1947 von Verschuers Weg zu Eugen Gerstenmaier, dem Leiter des  Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, gebahnt. Dieser konnte sich bei Adolf Butenandt, Nobelpreisträger für Chemie im Jahre 1939, für von Verschuer verwenden. Mit anderen verfasste er  die „Denkschrift betreffend Herrn Prof. Dr. med. Otmar Freiherr von Verschuer, 1949“. Sie bildetedie Basis  für von Verschuers Rehabilitierung und seine Berufung an die Universität in Münster.

Ich habe diesen besonderen Weg des Einstiegs gewählt, um sie an den absoluten Tiefpunkt in der dt. Psychiatriegeschichte zu führen. Ich will sie auf einen wichtigen Punkt aufmerksam machen, der die Lähmungen der deutschen Psychiatrie in den Nachkriegsjahren verständlicher macht.
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde die „Rassenhygiene“ mit der maßgeblichen Beteiligung der deutschen Elite in den Wissenschaften und der Beteiligung führender Psychiater zur „Staatsideologie“ aufgewertet.  

Chronisch kranke und behinderte Menschen wurden als „Ballast-Existenzen“ entwertet.
Die Folge war der systematische Massenmord von Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen, unter maßgeblicher Beteiligung führender Psychiater.

Es ist der historisch und weltweit einmalige Niedergang der Humanität diesem Personenkreis gegenüber in einer Gesellschaft , die nicht nur mit dem Erbe von Bach und Beethoven stolz auf ihre Kultur ist.
Hinweis: Ich danke an dieser Stelle allen Kollegen und Kolleginnen, die sich für die Aufarbeitungen der Nazi-Verbrechen in der Gedenkstätte in Hadamar einsetzen.

Dem Meilenstein in der Geschichte der Reformbewegung der psychiatrischen Versorgung über den Andrea Fischer sprach, gingen schon immer Versuche von Reformen voraus. Man wollte mehr Menschlichkeit (Humanität) in die Versorgung psychisch Kranker u. Behinderter  und ihre Versorgung bringen. Allein sie scheiterten immer wieder.

Als Inquisition und Hexenverfolgung im 18. Jahrhundert ihre „Höhepunkte“ überschritten hatten, hörten die Qualen der psychisch Kranken dagegen noch lange nicht auf.  Weiterhin drohten ihnen „Tollhaus und Narrenturm“. Ausgemustert als „Störfälle der Natur“, weggesperrt mit Verbrechern, Bettlern und Prostituierten. In Kerkern ohne Tageslicht und Frischluft siechten sie oft an Ketten gefesselt vor sich hin, ohne Aussicht auf Entrinnen. Die Essensklappe war oft der einzige Bezug zur Außenwelt.

Die damalige „Behandlung“ psychischer Erkrankungen ist heute nur als reine Folter zu bezeichnen.
Heilung durch Schmerz war die weitverbreitete Ansicht, dazu gehörten Auspeitschen, Zwangsstehen, stundenlanges Baden in eiskaltem Wasser und viele andere Torturen.

Im Zuge der Aufklärung begannen sich Verständnis und Einstellung zu psychischen Störungen allmählich zu verändern. Beeinflusst von einem humanen Menschenbild, wie es der Franzose Pinel oder der Engländer Tuke, ein Quäker, in Europa verbreiteten. Menschenwürde und sinnhafte Konzepte zur Versorgung wurden an einigen Orten nun ausprobiert.
 
Der soziale Wandel zu Beginn des 19. Jh. mit steigender Industrieproduktion löste einen enormen Versorgungsbedarf aus. Er führte zur Schaffung einer großen Zahl öffentlicher Irrenheilanstalten in Deutschland und Europa.

Gleichzeitig drängte der Übergang von der Wegsperrtradition der europäischen Wohlfahrtspolitik zum medizinischen Modell mit der Entstehung der Psychiatrie auf Reformnotwendigkeiten.   
Dem stand der Mangel an Wissen über Ursachen und Behandlung psychischer Krankheiten und die Überzeugung, dass Irre gefährlich seien gegenüber. Dies hatte ihre langfristige geschlossene Unterbringung zur Folge. Von einer Gleichstellung der psychisch und physisch Kranken und einer menschenwürdigen Behandlung konnte auch zu Beginn des 20. Jh. noch keine Rede sein.

So kann es auch nicht erstaunen, dass das einseitig und oft sehr christlich verbrämte sozialpädagogische Krankheitskonzept des 19. Jahrhunderts, schließlich durch ein einseitig biologistisches Krankheitskonstrukt abgelöst wurde. Dieses führte in die absolute  Katastrophe. 1945, nach Krieg und Massenmord an psychisch Kranken, war das Vertrauen in die Psychiatrie dann gänzlich verloren.
Die verbliebenen Anstalten waren überfüllt und großenteils verrottet. Es fehlte an Personal, an Nachwuchs, es fehlte an allem.  

Insbesondere an geschultem Personal, das einem neuen humanistischen Ethos, gerecht werden konnte. Im Gegenteil, Nazi-Psychiater hatten es geschafft, sich wieder in den abgewirtschafteten Anstalt einzunisten, um einen „nihilistischen Therapiegeist“ bzw. ihre „alten Ideologien“ weiterhin zu verbreiten.
( Als Beispiel nenne ich Prof. Willi Enke, von 1938 – 1945 Leiter der Landesheil- und Pflegeanstalt in Bernburg an der Saale. Er will von 14000 Ermordungen im abgetrennten Tötungsteil des Hauses nichts mitbekommen haben, wie er und seine Frau in Prozessen 1962 immer wieder behaupteten. Er war 1950 mit Frau und Sohn, einem später bundesweit bekannten Psychoanalytiker, von der Evangelischen Diakonieanstalt Hephata in Treysa als Chefarzt eingestellt worden, wo er bis zu seiner Pensionierung1963 u.a. ungestraft an Jugendlichen verletzende Versuche ohne medizinische Indikation vornahm. Den Treysaer „Evangelischen“ war Enke empfohlen worden von Prof. Werner Villinger, ein leugnender T4 Gutachter mit vormals vielen Nazifunktionen. 1958 gründete er den Bundesverband der Lebenshilfe in Marburg.  Um seine ehemaligen Kollegen in den  Universitäten und Gesundheitsdiensten der BRD wieder in Stellung zu bringen. Er scheute sich nicht mit dem Verein der „Stillen Hilfe“, der von der Tochter Heinrich Himmlers geführt wurde, zusammen zu arbeiten.)

Die deutsche Psychiatrie der Nachkriegszeit verharrte bis Ende der 1960er Jahre in einer Art Schockstarre (im Gegensatz zu den USA und dem Rest Europas).  Es herrschte Pflegenotstand pur, auf einen Arzt kamen fast zehnmal so viele Patienten wie vorgegeben. In ganz Deutschland verwahrte man psychisch Kranke noch bis weit in die 1970er Jahre unter unzumutbaren Zuständen in veralteten, überfüllten Kliniken. Wissenschaftliche Forschung und ihre Diskussion gab es nicht.

Einzige Ausnahme war die bahnbrechende Arbeit „Psychiatrie der Verfolgten“ von der Heidelberger Gruppe mit Walter Ritter von Bayer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker.  
Sie brachen mit zwei bis dahin gültigen Dogmen: mit dem Dogma der Psychoanalyse, daß ohne frühkindliche Trauma im späteren Leben keine neurotische Störung entstehen könne, auch nicht durch extreme Belastungen.

Und mit dem Dogma der biologischen Psychiatrie, psychotische Störungen, schizophrene zumal, seien im Kern genetisch bedingt, so daß eine Verursachung durch KZ-Aufenthalte nicht in Frage komme.
Auf der Grundlage sorgfältiger empirischer Untersuchungen an Überlebenden des Holocaust wies die Gruppe nach, dass diesbezügliche Extrembelastungen sehr wohl auch im Erwachsenalter einen bis dahin gesunden Menschen neurotisch und psychotisch „aus der Bahn“ werfen können. Sie veränderten damit die bis dahin gültige Begutachtungspraxis im deutschen Entschädigungsrecht von Grund auf.
Diese wissenschaftliche Erkenntnis ist als ein hervorragender Beitrag zur Wiedergutmachung der im NS-Staat versagenden Psychiatrie zu verstehen.

Umso mehr als die gleiche Gruppe im Jahr 1965 eine „Denkschrift zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – ein Notstand“ verfasste. Darin wurden bereits all diejenigen Forderungen erhoben, die zehn Jahre später in der Psychiatrie-Enquete des Deutschen Bundestages ihren Niederschlag fanden.

Einer der Verfasser, der junge Privatdozent Karl-Peter Kisker hatte sich für die Kritik an den psychiatrischen Anstalten Baden-Württembergs von  seinem damaligen Kultusminister noch eine offizielle Rüge eingehandelt. Später konnte der Gerügte als Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover in seiner neuen Funktion zeigen, daß Psychiatrie auch in Deutschland ohne Großkrankenhäuser auskommen konnte.

Als erste deutsche Universitätsklinik übernahm die Hannoveraner Psychiatrie einen Versorgungssektor der Stadt Hannover und entwickelte Zug um Zug all die notwendigen, ambulanten, stationären und komplementären Dienste, die zu einer umfassenden psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung notwendig sind. Die Klinik selbst war damit an den Rand des Geschehens gerückt.
Sowohl die deutschen Großkrankenhäuser als auch die Universitätspsychiatrie betrachteten das „Modell Hannover“ mit Argwohn. Die einen fürchteten langfristig um ihre „Existenz“, die anderen sahen es als „Provokation“, dass die Versorgungsverpflichtung der universitären Freiheit von Forschung und Lehre heilsame Zügel angelegt bekam.

Walter Picard (1923 -2000) berichtete mir in einem Interview kurz vor seinem Tod, dass er von 1961 bis 1965 (später nochmals) der Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen angehörte. Im Jahre 1964 war ein „Sonderausschuss“ zur Verbesserung der Lage der seelisch Behinderten und Kranken eingerichtet worden. „Das Ergebnis dieses Ausschusses war kümmerlich“, stellte Picard fest.
Zitat WP: „Die psychiatrischen Verhältnisse kennenlernen hieß damals: Angucken, sich erschrocken umdrehen und schnell wieder fortgehen. Ich übertreibe das jetzt nicht, das ist so mein und meiner Kollegen Eindruck gewesen….

….wir Politiker hatten uns damals in vielen Bereichen der Politik angewöhnt, beschönigende Worte zu finden, hinter denen wir das, was Wirklichkeit war, verborgen haben. Also getan hat sich in Wirklichkeit, man kann sagen nichts, Pustekuchen.“ (Zitat Ende)

Als Picard 1965 in den Deutschen Bundestag wechselte, griff er das Thema Psychiatrie wieder auf. Er stieß jedoch damit zunächst auf Ablehnung bei seinen Parteifreunden. Die vor der großen Koalition amtierende Gesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt, seine hessische Landesvorsitzende, ließ ihn mit den Worten abblitzen:

Zitat WP: „Also Herr Picard, das kann ich ihnen sagen, das wird nichts,  das kommt nicht in Frage. Sag ich : Warum denn nicht? Das will ich Ihnen gleich sagen, wir haben keine Zuständigkeit….deshalb wird daraus nichts.“ Zitat Ende, Soweit die Ministerinnen-Ebene.
Walter Picard weiter; „Ich bin damals mit meinem Thema unter Beschuss geraten bei meinen Kollegen im Bundestag, weil ich mich mit den linken Krawallern zusammengetan hätte. Du kannst doch nicht mit den Kommunisten arbeiten, was fällt dir ein, ein CDU-Mann, der kann doch nicht mit den ganz Linken Krawall machen, das waren die Kommentare. Sie hatten noch nicht verstanden, dass die Studenten von mir –  auch als betroffenem Angehörigen – viel Anregung in Sachen Psychiatrie bekommen konnten.“ Zitat Ende

Ich habe als junger Diakonenschüler ein Pflege-Praktikum in der Psychiatrischen Klinik in Bonn gemacht. Kurz vor Weihnachten fand dort eine Feier im großen Saal mit vielen Patienten/innen statt. Ich staunte nicht schlecht, als nach der Begrüßung durch den Klinikdirektor Prof. Huhn ein Mann eine Rede hielt, der mir bis dahin nur aus dem Scharz-Weiß-Fernsehen der damaligen Zeit bekannt war.
Dieser Mann sprach über eine halbe Stunde in einem „Irrenhaus“ zu Pflegenden, Ärzten und ca. 150 überwiegend psychotisch kranken Menschen, die ihre Aufmerksamkeit manchmal mit lauten Erzählungen über ihre gehörten Stimmen durchbrechen mußten. Die Inhalte dieser Rede zeugten nicht nur von mentaler Fachkenntnis, sie wurden emotional mit „compassion“ (Mitgefühl) vorgetragen und das manchmal schallende Lachen wurde auch nicht vergessen.

Nun, wer war dieser Mann?
Ich will es verraten: Es war der gerade frisch ins Amt gekommene Bundeskanzler Willy Brandt.
Walter Picard und seine Tochter Barbara hatten es geschafft, Willy Brandt „vor den Karren“ der Psychiatriereform zu spannen, nachdem sie bei ihren eigenen Parteifreunden abgeblitzt waren.
Zitat WP„ Als Brandt als Kanzler drankam, habe ich mir gedacht, der greift gern neue Themen auf und das ist ein brandneues, ich probiere das mal. Der war in seiner Rede nicht überspannt, überzogen und einseitig, in der Sache lag er absolut richtig“, bestätigte Picard später meine eigenen Wahrnehmungen bei dieser Feier.

Der Motor der Psychiatrie-Enquete, der Politiker Walter Picard, hatte sich vorher mit der Heidelberger Gruppe zu einem Bündnis zwischen Politik und fortschrittlichen Fachkollegen „zusammen geschlossen“. Bald stießen auch die beiden Frankfurter Psychiater Gregor Bosch und Kaspar Kulenkampff, der spätere Vorsitzende der Enquete-Kommission, zu dieser Gruppe.

Danach ging alles sehr schnell:
Walter Picard, CDU, am 17.04.1970 in seiner Rede zur Drucksache VI/474 im Dt. Bundestag: (wichtige Ausführungen)
„Die notwendige Modernisierung bestehender psychiatrischer Krankenhäuser wird allgemein anerkannt. Auch die erforderlichen strukturellen  Änderungen sind im Grunde unbestritten. Die Umstrukturierung der psychiatrischen Behandlung wird am besten durch zwei Stichworte: „Dezentralisierung und Rekommunalisierung“ verdeutlicht…“
„….aus anderen Gründen gibt es heute immer noch eine aktive Diskriminierung nicht nur der psychisch Kranken, sondern auch ihrer Familien und derjenigen, die sich für psychisch Kranke einsetzen“….. „die Einstellung der Mehrheit der Bevölkerung geistig Behinderten gegenüber ist irrational ablehnend“… 
Der Bundestag wolle beschließen: Die Bundesregierung wird beauftragt, eine umfassende Untersuchung über die psychiatrisch-psychohygienische Versorgung der Bevölkerung durchzuführen oder durchführen zu lassen und dem Bundestag bis zum 31. März 1971 einen Bericht hierüber vorzulegen.
… neben der Analyse der derzeitigen Lage soll zugleich festgestellt werden, welche Maßnahmen notwendig sind, damit die Versorgung den heute geltenden wissenschaftlichen Erkenntnisse gerecht wird….

Bundeskanzler Willy Brandt antwortet in seiner Regierungserklärung am 18. Januar 1973:
…“in dieser Legislaturperiode werden wir uns mehr den Menschen zuwenden, die durch persönliches Schicksal am Rande der Gesellschaft stehen….ich meine hier vor allem die Eingliederung der vielen Behinderten und Schwerbeschädigten …. wir  denken hier auch an die Geistig Behinderten, vor allem an die Kinder….wie viele von ihnen zur Rehabilitation fähig sind, wenn man sich ihrer annimmt, …..aber vergessen wir nicht: Die unheilbar Kranken brauchen unsere tätige Barmherzigkeit mehr als alle anderen.“

Der „ Bericht über die Lage der Psychiatrie in der BRD“ (off. Titel) wurde September 1975 mit einem Umfang von 430 DIN A 4 Seiten im Auftrag des Bundestages von einer Sachverständigenkommission aus ca. 200 Sachverständigen aller Bereiche der Psychiatrie erstellt. Auftragsgemäß legte die Kommission im Oktober 1973 einen Zwischenbericht vor.

Der Zwischenbericht im Jahr 1973 offenbarte schwerwiegende Mängel bei der Versorgung psychisch Kranker. Eine sehr große Anzahl psychisch Kranker und Behinderter in den stationären Einrichtungen muss „unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben“.  
Wichtigste Forderung der Sachverständigenkommission waren „Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse“  
Dies war ein Tabu-Bruch: Zum 1. Mal stellte sich eine Regierung in Deutschland offiziell vor dem Parlament selbst an den Pranger! Diese Forderung der Enquete leitete die humanitäre Wende ein!
       
Ziel war nun die Integration und menschenwürdige Behandlung, Betreuung und Begleitung psychisch Kranker und Behinderter und ihrer Angehörigen in die Gesellschaft. Die Arbeit der Kommission war jedoch nicht immer in Harmonie verlaufen. Die erste größere Kontroverse rankte sich um die Alternative: Psychiatrische Abteilung am Allgemeinkrankenhaus versus isoliertes Psychiatrisches Fachkrankenhaus.
25 Jahre nach der Enquete erinnerte sich Prof. Kulenkampff: Zitat KK „Die „Anstaltslobby“ verteidigte den Bestand der 130 Häuser mit „Klauen und Zähnen“. Die Einfügung der Worte ‚Auflösung’ oder ‚Schließung’ in die Empfehlungen war nicht durchzusetzen. Richtig wäre es gewesen „besonders ungünstig situierte“ psychiatrische Krankenhäuser aufzugeben, zu schließen und die wegfallenden Bettenkapazitäten in gemeindenahe psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern zu verlagern“.  Zitat Ende

Die Zahl psychiatrischer Abteilungen an Allgemein-Krankenhäusern (alte Bundesländer) wuchs von 1976 bis 2011 um ca. 500 %. Und hat die größten Teile der Kontroverse erübrigt. Welchen Sprengstoff aber diese Kontroverse in sich hatte, zeigte sich knapp 10 Jahre später als die GRÜNE Fraktion im LWV in der Verbandsversammlung am 13.02.1984 den Antrag mit dem Titel „Verwirklichung der gemeinenahen Psychiatrie ohne die Trägerschaft durch den LWV“ vorlegte (abgedruckt im Arbeitsbericht der 1. GRÜNEN LWV-Fraktion). Der Antrag war eine Antwort der GRÜNEN darauf, dass die Umsetzung der Erkenntnisse der Psychiatrie-Enquete allzu lange auf sich warten ließen.

Zu Beginn der 80-iger hatte sich in ganz Deutschland ein GRÜNES Milieu etabliert. Und es wirkte ansteckend auf immer breitere gesellschaftliche Kreise mit seinen neuen lebensfrohen Gemeinschaftsformen; naturbezogen, kleinräumig, vor Ort, innovativ, kostengünstig, WG´s, Eigenproduktion, Kleinstfirmengründungen, usw. Es bot die besten Vorrausetzungen zur Umsetzung der Enquete-Gedanken der Dezentralisierung und Kommunalisierung.

Allen Beteiligten war klar, dass wir in diese neuen Lebensformen auch die Menschen mitnehmen mußten, die bisher wegen Behinderung und Erkrankung in riesigen Anstalten und Einrichtungen weit ab von ihren Heimatgemeinden verwahrt und bestenfalls befürsorgt wurden.
Es war die Zeit, in der all die kleinen und pfiffigen Bürgerinitiativen und Vereine entstanden sind: LEBENSRÄUME, AUFWIND, TAGTRÄUMER, STIMMENHÖRER, BRÜCKE, TREFFPUNKT, WERKSTATT….Und manche ganz unromantisch: BI für Sozialpsychiatrie, FIB-BI für Betreutes Wohnen, BI für Psychosoziale Betreuung, und, und, und….

Wir propagierten nicht nur das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen, viel entscheidender war, dass wir es praktiziert haben. Fortan erhob sich jene Blaue Karawane und zog aus riesigen Gebäuden der Anstalt hinein in die Wohngemeinschaft, begleitet von der Musik des Circus Klapsus der Bürgerinitiative Sozialpsychiatrie Marburg.

Und es ging weiter mit dem Zug durch Europa der Karawane 2000, dem Netzwerk der sozialen Integration benachteiligter Menschen und Menschen mit Behinderungen, ausgehend von der Wohngemeinschaft in der Bommershainer Str. 60 in Oberursel und den GRÜNEN im LWV, denen ich herzlich zum 40-jährigen Jubiläum in dieser Verbandsversammlung gratuliere und noch viele Erfolge wünsche.

Diese entscheidende „Brandbeschleunigung“ der Psychiatrie-Enquete wurde begleitet von weiteren Initiativen, zu der in erster Linie die Fortbildung der 200 Sachverständigen der Enquete selbst gehörten. Während der Erstellung der Enquete mußten sie sich mit den wissenschaftlichen Anforderung einer Reform der Psychiatrie vertraut machen.

Ihnen musste klar werden, wie wichtig die Einigung auf ein grundlegendes Versorgungssystem in Standardversorgungsgebieten mit den im Bericht formulierten Elementen ist. Als mit dem „Mannheimer Kreis“, einem lockeren, informellen Zusammenschluss von mehreren 1000 Verfechtern einer sozialen Psychiatrie, die Gründung der sozialpsychiatrischen Fachgesellschaft „Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie“ (1970), stattfand, und der „Deutsche Ärztetag“ sich erstmals in seiner Geschichte mit der psychiatrischen Versorgung befaßte, die Aktion Psychisch Kranke, APK, am 31. August 1971, die Geschäftsführung der Enquete übernahm, der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen BApK, 1985 und der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, BPE, 1992 gegründet waren, sowie Modellprogramme aufgelegt wurden, war der Flächenbrand der Enquete längst nicht mehr zu löschen.
 
Resümee:
In der Geschichte der Medizin hat kein Ereignis das Schicksal der Kranken und die psychiatrische Versorgung so einschneidend verbessert wie die Psychiatrie-Enquete der Bundesrepublik Deutschland 1971–1975. Eine Reform war unvermeidbar.

Die Rede des CDU-Abgeordneten Walter Picard vor dem Bundestag am 17.04.1970 gab den politischen Anstoß zur Psychiatrie-Enquete. Der internationale Vergleich zeigt, dass es in keinem anderen Land eine in vollem Maße vergleichbare Psychiatriereform gegeben hat.
 
Die Familie Wild, mit hugenottischen Wurzeln, (neben Familie Hassenpflug) aus der Sonnenapotheke in der Marktgasse 21 (Haus wurde 1943 zerstört) in Kassel war eine der frühesten und ergiebigsten Quellen für die Sammlung Kinder und Hausmärchen (KHM) der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm. Die Fam. Wild wohnte nur zwei Häuser vom ersten Wohnhaus der Brüder Grimm in Kassel, dem Haus Wildemannsgasse 24 / Ecke Marktgasse, entfernt. Henriette Dorothea Wild wurde 1825 Wilhelm Grimms Frau.
„Dortchen“ Wild schrieb den folgenden Text im Oktober 1851 zu Besuch bei ihrem Schwager, dem Bergrat Friedrich Karl von Fulda auf der Friedrichshütte nach mündlicher Tradition auf. Die Friedrichshütte ist eine über 275 Jahre alte ehemalige Kupferschmelze in Iba (heute Bebra), wenige km „übern Berg“ entfernt von Solz, dessen Namen sie sich ja merken sollten, entfernt.
 
Die klugen Leute (Kurzform)
Bauer Hans lässt seine Frau Trine in seiner Abwesenheit die drei Kühe verkaufen, aber nicht für unter zweihundert Taler, sonst will er sie verprügeln.
Der Viehhändler hat kein Geld dabei und belässt ihr eine Kuh zum Pfand.
Der wütende Bauer will sie schonen, wenn er jemand noch dümmeren fände.
Auf der Straße fährt eine verwitwete Frau stehend im Wagen vorbei, um die Zugtiere weniger anzustrengen.                                                                                               
Bauer Hans behauptet ihr gegenüber, er sei vom Himmel gefallen, dort oben habe ihr Mann keine Kleider.
Sie holt ihm ihr Geld und sagt es auch ihrem Sohn, der den Himmelsboten suchen geht und ihm sein Pferd schenkt, damit er schneller in den Himmel zurückkehren kann.
Der reitet nun zufrieden heim.
Vielen Dank!

Von der Fürsorge zur selbstbestimmten Teilhabe
40 Jahre grüne Fraktion in der Verbandsversammlung des LWV Hessen
 
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die letzten 40 Jahre, in denen die grüne Fraktion im LWV Hessen die Praxis der Sozialhilfe und Eingliederungshilfe in Hessen mitgestalten konnte ist eingebettet in die Entwicklung der Behindertenpolitik insgesamt in dieser Zeit. Historische Entwicklungen haben es so an sich, dass man selten einen genauen Anfangspunkt oder einen Endpunkt beschreiben kann. Entwicklungen verlaufen auch selten geradlinig, eher in Windungen und Wendungen, in Fortschritt und Rückschritt. So erwarten Sie bitte von mir keine wissenschaftliche historische Untersuchung, sondern einen Rückblick auf die Behindertenpolitik, wie ich sie wahrgenommen, selbst erlebt habe und in Teilen mitgestalten konnte.
Wesentliche Initiativen für mehr Emanzipation und Empowerment behinderter Menschen kam – wie sollte es anders sein – von den Betroffenen selbst. Einen wichtigen Anstoß dazu lieferte fast 10 Jahre vor der ersten grünen LWV-Fraktion der Journalist Ernst Klee.
 
1973 erschien sein Werk „Randgruppenpädagogik“ mit radikalem Eintreten für obdachlose, straffällig gewordene, psychisch kranke, behinderte, sogenannte asoziale und andere ausgegrenzte Randgruppen in der Gesellschaft. Aber Klee wollte die soziale Wirklichkeit nicht nur beschreiben. Er wollte sie auch verändern. Mit seinem ebenfalls 1973 gegründeten VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“ in Frankfurt hat er auch praktisch in vielen behinderten Menschen die Idee der Emanzipation geweckt und zum Blühen gebracht. Legendär ist auch die Demo mit einer Blockade des Straßenbahnverkehrs in Frankfurt durch Gusti Steiner und viele andere, um gegen die Ausgrenzung behinderter Menschen aus dem öffentlichen Personennahverkehr zu protestieren. Oder die bisher größte Demonstration behinderter Menschen im Mai 1980 gegen ein Urteil des Frankfurter Landgerichts, in dem die Anwesenheit von behinderten Menschen im Hotel als Reisemangel eingestuft wurde.
Auch ich – 1956 mit einer Behinderung geboren – war als junger Mensch durch die Werke von Ernst Klee stark beeinflusst. Sie haben mir Augen und Herz geöffnet für eine neue Welt, in der Behinderung eben nicht mehr automatisch mit einem reduzierten Leben verbunden sein muss.
  
Am meisten beeindruckt hat mich persönlich sein Werk „Behindertsein ist schön“, erschienen 1974, der Titel angelehnt an das Motto der US-Bürgerrechtsbewegung „Black is beautiful“. Das eröffnete eine völlig neue Perspektive des Empowerments, der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Von dem damals üblichen „ich bin behindert, also kann ich das nicht“ hin zu einem „warum soll ich das nicht können, nur weil ich behindert bin?“ Warum soll ich nicht Abitur machen, warum soll ich nicht studieren, warum soll ich nicht politisch aktiv sein und warum soll ich nicht in der eigenen Wohnung statt im Heim wohnen, nur weil ich behindert bin? Klee hat die gesellschaftliche Realität analysiert, angeklagt und schließlich verändert.

Später hat sich der Autor vor allem durch seine unglaublich fundierte, faktenreiche und engagierte Aufarbeitung der Geschichte der NS-Medizin, von fürchterlichen Menschenversuchen bis zur Euthanasie, bleibende und zu Recht mehrfach ausgezeichnete Verdienste erworben. Er war dadurch auch besonders wichtig für den LWV und seine Gedenkstätte Hadamar. Seit seinem Werk „Euthanasie im NS-Staat, die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von 1983 hat ihn die Frage nicht losgelassen: Wie konnte so etwas geschehen, wer waren die zentralen handelnden Personen und warum tat sich die Nachkriegsgesellschaft so schwer mit der dringend notwendigen Aufarbeitung?

Wir sind unglaublich stolz und empfinden es als große Ehre, dass der 2013 verstorbene Ernst Klee sein umfangreiches Archiv unserer Gedenkstätte Hadamar hinterlassen hat.
In den 70er Jahren entwickelte sich so etwas wie die emanzipatorische Behindertenbewegung mit Initiativen an verschiedenen Orten. Diese entsprach dem politischen Zeitgeist, dem Aufbegehren vor allem der Jugend, der Entwicklung einer „Außerparlamentarischen Opposition“ und dem Entstehen sozialer Bewegungen außerhalb der traditionellen politischen Parteien.

Am radikalsten haben den Anspruch auf Selbstvertretung wohl die sog. „Krüppelgruppen“ vertreten.
Sie lehnten die als Bevormundung empfundene Fürsorge Nichtbehinderter radikal ab. Durch die Aneignung des an sich sehr diskriminierenden Begriffs des Krüppels wollten sie in besonderer Weise ihr Selbstbewusstsein zum Ausdruck bringen. Etwa wie homosexuelle Männer durch die Übernahme des ursprünglich als Schimpfwort verwendeten Wortes „Schwuler“. Die erste Krüppelgruppe wurde 1978 in Bremen gegründet.

Im gleichen Jahr begann die neu gegründete Vereinigung Integrationsförderung (vif e.V.) in München damit, radikale Alternativen zur damals allgemein üblichen Heimunterbringung behinderter Menschen zu formulieren, vor allem als Alternative zur Stiftung Pfennigparade in München.
1981 war auch UNO-Jahr der Behinderten, das in der Bundesrepublik mit vielen Veranstaltungen begleitet wurde. Viele Teile der Behindertenbewegung fanden die als kritikloses Abfeiern wahrgenommene Darstellung von Hilfen für Behinderte als paternalistische Zumutung. Sie nannten es das UNO-Jahr der Behinderer. Beim zentralen Höhepunkt des UNO-Jahres in Dortmund wurde Bundespräsident Carstens am Reden gehindert, weil eine Gruppe behinderter Menschen aus Protest die Bühne besetzte und sich dort ankettete. Im Dezember des gleichen Jahres fand – ebenfalls in Dortmund – als Kontrastprogramm das „Krüppeltribunal“ statt, auf dem anhand von 15 Anklagepunkten – von der Heimunterbringung über die Werkstätten für Behinderte bis hin zum Ausschluss aus dem öffentlichen Personenverkehr und der Diskriminierung behinderter Frauen – Menschenrechtsverletzungen an Behinderten in Deutschland angeklagt waren.
 
Die 1980 gegründete Partei die Grünen empfahl sich damals als politische Vertretung vieler sozialer Bewegungen: der Friedensbewegung, Frauenbewegung, Umwelt- und Anti-Atombewegung. So ist es nicht verwunderlich, dass auch viele Menschen aus der Behindertenbewegung in den Grünen ihre neue politische Heimat sahen. Viele engagierten sich in den Kreisverbänden, wurden auch in kommunale oder Landesparlamente gewählt. Schon früh gründete sich die Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik bei den Grünen, die den Anspruch erhob, die Interessen behinderter Menschen innerhalb der Partei zu vertreten und die grüne Politik in Bezug auf Emanzipation, Empowerment, Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe in Politik und Gesellschaft weiterzuentwickeln. Sie existiert bis heute.
Erste Wahlerfolge stellten sich für die damals junge Partei auf kommunaler Ebene ein. So war es nicht verwunderlich, dass 1981 auch zwei grüne Frauen in die Verbandsversammlung gewählt wurden. Vier Jahre später war es dann bereits eine Fraktion, der mit dem leider schon verstorbenen Peter Günter auch ein Rollstuhlfahrer und Mitbegründer des fib e.V. in Marburg angehörte. Er war zeitweilig auch Vorsitzender der Fraktion.

Von Anfang an stand für die grünen Vertreter die Enthospitalisierung, die Förderung individueller Unterstützung, die möglichst selbstbestimmte Lebensführung behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen im Vordergrund. Die Rechtslage setzte dem allerdings innerhalb des LWV zunächst relativ enge Grenzen. Am ehesten konnte dies noch bei der Enthospitalisierung geistig und seelisch behinderter Menschen angepackt werden, weil der LWV als Krankenhausträger auch alternative Angebote in den Heilpädagogischen Einrichtungen und den begleitenden psychiatrischen Diensten schaffen konnte.
Auch hierbei handelte es sich zwar um stationäre Angebote, allerdings deutlich pädagogischer und individueller ausgerichtet, als die damalige Psychiatrie.

Als überörtlicher Sozialhilfeträger war der LWV allerdings an das damalige Bundessozialhilfegesetz gebunden. Dieses sah eine Zuständigkeit des überörtlichen Trägers nur für stationäre und ggf. teilstationäre Angebote vor, für ambulante Hilfen war der örtliche Träger zuständig. Für so etwas wie ambulant betreutes Wohnen oder ambulante Dienste bestand keine Zuständigkeit des LWV. Beim Übergang von der einen in die andere Wohnform war man immer auf das Zusammenwirken verschiedener Kostenträger angewiesen. Nicht jede Entscheidung wurde dabei rein fachlich getroffen.
Wenn mit dem Wechsel der Unterstützungsform auch ein Wechsel in der Kostenträgerschaft verbunden ist, fördert dies nicht die Übergänge. Vor allem ein Wechsel in ambulante Wohnformen war finanziell für die kommunalen Träger nicht attraktiv. Erst mit dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch 2001 wurde die Frage der sachlichen Zuständigkeit auf den Landesgesetzgeber übertragen, wobei Hessen durch das damalige Ausführungsgesetz an dem Schwerpunkt der LWV-Zuständigkeit für stationäre Angebote festhielt, aber Öffnungen zuließ.
 
Erst mit dem aktuellen HAG/SGB IX wurde die Zuständigkeit der örtlichen und überörtlichen Ebene ab 2020 nicht mehr nach Hilfeformen, sondern nach Lebensabschnitten bestimmt. Unabhängig von der Unterstützungsleistung ist jedenfalls nur ein Eingliederungshilfeträger in jedem Lebensabschnitt zuständig.

Wenn in meinem kleinen geschichtlichen Rückblick übrigens der Schwerpunkt auf der Rechtsgeschichte liegt, ist dies natürlich meiner Profession als Jurist geschuldet und der Tatsache, dass ich die Rechtsentwicklung besonders intensiv beobachtet und zum Teil auch mit beeinflusst habe. Aber in einem demokratischen Rechtsstaat ist die Rechtsgeschichte immer auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung.

Gesellschaftliche Debatten, geänderte Auffassungen in der Fachöffentlichkeit, wissenschaftliche Diskurse und Aktivitäten in der Zivilgesellschaft können den Gesetzgeber beeinflussen und den Anstoß zur Veränderung des Rechtsrahmens geben. Schließlich sind die gesetzgebenden Körperschaften demokratisch legitimiert und damit dem Souverän, dem deutschen Volk, verantwortlich und rechenschaftspflichtig. Andererseits gibt das Gesetz oft Vorgaben, die in der gesellschaftlichen Realität erst umgesetzt werden müssen. Manchmal ist die Gesellschaft weiter, als das Gesetz, manchmal ist aber auch das Gesetz fortschrittlicher, als der Zeitgeist. Jedes Gesetz muss auch mit Leben erfüllt werden.
So steht auch jede Verbesserung im Recht zugleich für Veränderungen des gesellschaftlichen Bewusstseins, der realen Verhältnisse, des professionellen und alltäglichen Umgangs mit behinderten Menschen, ohne dass ich in jedem Einzelfall diese Veränderungen ebenfalls beleuchte. Das würde den mir gesetzten Zeitrahmen deutlich überschreiten.

Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Sagt Viktor Hugo.
Auch neue Ideen in der Behindertenpolitik waren oft lange Zeit vorgedacht bis ihre Zeit schließlich kam. Ende der 80er/Anfang der 90er-Jahre trat die Frage der Menschenrechte behinderter Menschen immer mehr in den Vordergrund, und zwar in zweierlei Hinsicht. Das Recht der Vormundschaft über geistesschwache und geisteskranke Menschen – so hieß das in dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bürgerlichen Gesetzbuch – war schon seit langem in der Kritik, endlich wurde aber im Bundesjustizministerium an einer grundlegenden Reform gearbeitet, die in der Fachöffentlichkeit intensiv diskutiert wurde und auch den Deutschen Juristentag beschäftigte.

Bei einer Entmündigung wegen Geistesschwäche galten die Betroffenen als beschränkt geschäftsfähig, vergleichbar den Minderjährigen ab dem vollendeten 7. Lebensjahr, bei einer Entmündigung wegen Geisteskrankheit sogar als vollständig geschäftsunfähig, vergleichbar einem kleinen Kind bis zum 7. Lebensjahr.

Das dann schließlich verabschiedete Betreuungsrecht war ein Quantensprung auf dem Weg zur Selbstbestimmung behinderter Menschen. Die Entmündigung wurde abgeschafft, ein Betreuer darf nur für Aufgaben bestellt werden, für die dies erforderlich ist.

Bei der Auswahl des Betreuers müssen Wünsche des Betroffenen ebenso berücksichtigt werden, wie bei der Führung der Betreuung. Das Betreuungsrecht trat zum 01.01.1992 in Kraft. Nach 30 Jahren war aktuell der nächste Reformschritt notwendig, die vollständige Überarbeitung tritt zum 01.01.2023 in Kraft und soll den Wünschen und Zielen der Betroffenen noch stärkeres Gewicht verleihen.
Das Betreuungsrecht war übrigens das einzige Rechtsgebiet, das nach dem Einigungsvertrag in den neuen Ländern bereits vor dem Inkrafttreten im alten Bundesgebiet in Kraft trat. Der Reformprozess wurde nämlich zeitlich überholt durch den größten Glücksfall der Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, der Wiedervereinigung. Im wiedervereinten Deutschland wurde auch eine Anpassung des Grundgesetzes an die neuen staatspolitischen Realitäten vorangetrieben. Im Januar 1992 konstituierte sich die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, die in der Folge Vorschläge für Anpassungen des Grundgesetzes erarbeiten sollte.
 
Diese Chance nutzte natürlich auch die Behindertenbewegung, in der ebenfalls Ende der 1980er/Anfang der 1990er der Ruf nach gesetzlichen Regelungen zur Gleichstellung behinderter Menschen immer lauter wurde. Getragen war dies u.a. durch Erfahrungen im Austausch mit behinderten Menschen in den USA.
Auf die Frage, warum dort so weitgehende Barrierefreiheit etabliert sei, gab es oft die Antwort „it’s the law“, es ist das Gesetz, das behinderten Menschen weitgehende Gleichstellung gewährleistet. Dies auch in Deutschland zu realisieren wurde zuerst als Forderung stringent formuliert im „Düsseldorfer Appell“ von 1991, veröffentlicht bei einer Veranstaltung auf der Reha-Messe in Düsseldorf, der innerhalb kurzer Zeit große Resonanz fand. Die Forderung nach einer Aufnahme in das Grundgesetz war auch eine der ersten gemeinsamen Positionen, die von Behindertenverbänden in den alten und den neuen Bundesländern gemeinsam vertreten wurden. Die Aufnahme eines Benachteiligungsverbots behinderter Menschen in Art. 3 GG sollte als erster Schritt vorangetrieben werden.

Das Anliegen wurde auch in einer Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgetragen und war im Ergebnis mit der Verfassungsänderung 1994 dann auch erfolgreich. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ heißt es seitdem in Art. 3 Abs. 3 Satz 3 Grundgesetz.
 
Gegen die Grundgesetzänderung wurde u.a. eingewandt, das Gesetz könne nicht etwas versprechen, was es in der Realität nicht geben könne. Das entsprang einem gängigen Missverständnis. Gleichstellung bedeutet keine Gleichmacherei.

Es geht um die Anerkennung unterschiedlicher Lebensrealitäten als gleichberechtigt im Sinne von Chancengleichheit, Teilhabe und Entfaltungsmöglichkeiten. Natürlich kann eine gesetzliche Regelung nicht die Einstellung von Menschen unmittelbar ändern, aber sie kann deutlich machen, dass das Recht auf ihrer Seite steht und ihnen Instrumente an die Hand geben, sich gegen Diskriminierungen zur Wehr zu setzen. Diese Sichtweise setzte sich schließlich durch. Und es konnte damit ein Versäumnis des Grundgesetzes aus seiner Entstehungszeit korrigiert werden. Die speziellen Benachteiligungsverbote des Art. 3 Abs. 3 – „Niemand darf wegen … seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ – nahmen alle Bezug auf Personengruppen, die im Nationalsozialismus verfolgt, gequält und getötet worden waren. Behinderte Menschen waren dabei nicht im Blick. Das entsprach der – sagen wir – ambivalenten Haltung zu den nationalsozialistischen Verbrechen an behinderten Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Spätestens mit der Aufarbeitung seit den 80er Jahren war diese Haltung aber nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Die Grundgesetzänderung war aber nur der erste Schritt. Ende 1991 hatte sich auf meine Initiative das Forum behinderter Juristinnen und Juristen gegründet und sich zunächst für die Grundgesetzergänzung eingesetzt. Nachdem dies erreicht war, beschäftigten wir uns mit einem möglichen Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen. Zunächst in einer rechtspolitischen Fachtagung im April 1993. Die Idee war geboren, die Realisierung ließ noch einige Zeit auf sich warten.

Eine weitere langjährige sozialpolitische Diskussion fand derweil 1995 mit der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung ihren vorläufigen Abschluss. Immerhin ein Teil der ambulanten, teilstationären und stationären Pflegeleistungen für pflegebedürftige Menschen wurden fortan von den Pflegekassen übernommen. Bei der Einführung und der Einschätzung voraussichtlicher Kosten war allerdings ein Personenkreis schlicht übersehen worden, nämlich die behinderten Menschen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Die Diskussion hierüber führte zur Regelung in § 43a SGB IX, wonach die Eingliederungshilfe die Pflege mit übernehmen muss und die Pflegekassen nur eine marginale Beteiligung übernehmen. Diese Benachteiligung setzt sich bis heute fort und wurde auch im Zuge des Bundesteilhabegesetzes aktuell nicht beseitigt. Immerhin übernimmt die Pflegeversicherung im ambulanten Bereich ihren Teil der Unterstützung behinderter Menschen.

Die erste Rot-GRÜNE Koalition ab 1998 brachte dann wichtige behindertenpolitische Neuerungen. Das hing auch damit zusammen, dass Vertreter der emanzipatorischen Behindertenpolitik mit dem neuen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Karl-Hermann Haack eine Art Crashkurs in Sachen Selbstbestimmung veranstalteten, u.a. mit einer Reise in die USA zum dortigen Independent Living Movement.
2001 entstand das SGB IX. Auf Grundlage des gegliederten Systems der sozialen Sicherung wurden gemeinsame Teilhabeansprüche formuliert, die Zusammenarbeit der Träger verstärkt und die Personenzentrierung im Recht behinderter Menschen erstmals verankert. Es brachte allerdings auch die sog. gemeinsamen Servicestellen. Gut gedacht, von der Praxis aber nicht umgesetzt, führten sie bis zu ihrer Abschaffung durch das Bundesteilhabegesetz ein Schattendasein.
 
2002 folgte das Behindertengleichstellungsgesetz, mit Vorschriften zum Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung durch die öffentliche Hand, eine Grunddefinition von Barrierefreiheit und Vorschriften zur Barrierefreiheit und Anti-Diskriminierung in verschiedenen Gesetzen, wie z.B. dem Gaststättengesetz und dem Personenbeförderungsgesetz.
 
Als Grundlage diente ein Entwurf des Forums behinderter Juristinnen und Juristen, dessen Vertreter – Horst Frehe und ich – direkt in die Formulierung des endgültigen Gesetzentwurfs in den Ministerien einbezogen waren. Die im Gesetz verankerten Zielvereinbarungen zwischen Behindertenorganisationen und Wirtschaftsverbänden führen allerdings in der Praxis ebenso ein Schattendasein wie die eingeführten Verbandsklagerechte bei Verstößen gegen das Gesetz. Noch nicht geregelt war das Benachteiligungsverbot im Vertragsrecht. Dies folgte erst durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006.

2005 schließlich wurde die Sozialhilfe neu geregelt. Das SGB XII löste das alte BSHG ab, aus den Hilfeempfängern wurden Leistungsberechtigte. Die Eingliederungshilfe wurde erweitert und stärker an den Interessen behinderter Menschen ausgerichtet. Es blieb aber im Wesentlichen bei den alten Freibeträgen für Einkommen und Vermögen. Der Verwaltungsaufbau wurde komplett den Ländern überlassen; enthielt das Landesrecht keine Regelung, wurde der überörtliche Träger der Sozialhilfe zuständig für die Hilfe zur Pflege und die Eingliederungshilfe. In Hessen führte das Gesetz einmal mehr zu einer politischen Diskussion über die Auflösung des LWV.

Das damals bereits vorgeschlagene Lebenslagenmodell fand allerdings keine Gefolgschaft. Das HAG/SGB XII behielt die Teilung der Zuständigkeiten im Wesentlichen bei, d.h. der LWV war weiterhin vor allem für stationäre Leistungen der Eingliederungshilfe zuständig. Schon lange war aber im LWV klar, dass die strikte Trennung zwischen ambulanten und stationären Leistungen die Übergänge in ambulante Formen deutlich erschwert und nicht sachgerecht ist. Seit 1989 gab es daher bereits eine Vereinbarung zwischen LWV, den Kommunen und der Liga der freien Wohlfahrtspflege zur Schaffung Betreuter Wohngemeinschaften für behinderte Menschen, die nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf stationäre Angebote angewiesen sind. Vor Schaffung eines Angebots war die Zustimmung des örtlichen Trägers notwendig. Investitionskosten wurden von Land, Kommune und LWV getragen neben Eigenleistungen des Trägers.
 
Die laufenden Kosten des Lebensunterhalts und sonstige Hilfen wurden vom örtlichen Träger, Betreuungs- und Verwaltungspersonal vom LWV getragen. Auch betreutes Einzelwohnen innerhalb solcher Wohngemeinschaften war möglich, nach einer Neufassung der Vereinbarung in 1991 auch in einer eigenen Wohnung.

Die Praxis der Schaffung betreuten Wohnens war allerdings noch geprägt von einem kommunalen Misstrauen gegenüber dem LWV, der sich womöglich durch diese neue Hilfeform vor allem von den Kosten für Wohnheime entlasten wollte. Deshalb war der Zuwachs an Angeboten des Betreuten Wohnens zunächst eher verhalten.

Vom damaligen Fachbereich 206 wurde ab 2002 das Konzept für stationär begleitetes Wohnen im Rahmen des Projekts „Wohnen im Verbund“ entwickelt. Damit sollte vor allem geistig behinderten Menschen der schrittweise Übergang vom Wohnheim in das betreute Wohnen geebnet werden. Ein interner Sachstandsbericht in 2006 stellte fest, dass 86,8% der Bewohner des stationär begleiteten Wohnens aus stationärem Wohnen kamen. Sie hatten jetzt mehr eigenen Gestaltungsspielraum und damit mehr Selbstbestimmung. Mehr als 42% war darüber hinaus ins betreute Wohnen übergewechselt, die meisten davon innerhalb der ersten zwei Jahre.

Der Wechsel bedeutete übrigens nicht den Wechsel in eine neue Wohnung, sondern eine Reduzierung der Unterstützungsintensität unter Beibehaltung der bisherigen Wohnung. Nur 5% waren ins Wohnheim zurückgekehrt. Diese Initiative war mit Sicherheit eine wesentliche Ursache dafür, dass auch heute noch Hessen den höchsten Anteil Betreutes Wohnen für geistig behinderte Menschen bundesweit aufzuweisen hat.

Das bereits Ende 2003 verabschiedete SGB XII war dann Veranlassung für eine neue Vereinbarung zum betreuten Wohnen, die parallel mit dem Gesetz zum 1.1.2005 in Kraft trat. LWV, Kommunale Spitzenverbände und das Land Hessen vereinbarten, dass der LWV allein zuständig wurde für das Betreute Wohnen, also keine Kostenteilung mehr, keine bürokratischen Hemmnisse, keine Begrenzung der Platzzahlen, wie in den Vereinbarungen zuvor. Dies führte zu einem deutlichen Anstieg der Inanspruchnahme betreuten Wohnens. Allerdings war die Regelung befristet bis Ende 2008, danach sollte das Betreute Wohnen in kommunale Trägerschaft übergehen. Nach einer Anschubphase sollte damit die grundsätzliche Zuständigkeit der Kommunen für die ambulanten Leistungen wieder hergestellt werden. Nach der Landtagwahl 2008 gab es allerdings neue Mehrheitsverhältnisse im Landtag, die sogenannten „Hessischen Verhältnisse“ ohne Koalition und mit wechselnden Mehrheiten.

In dieser Situation brachten die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf meine Initiative einen Gesetzentwurf ein, der dem LWV auf Dauer die Zuständigkeit für betreutes Wohnen übertragen sollte. Dieser Entwurf fand schließlich die einstimmige Zustimmung aller Fraktionen im Landtag, der LWV war also weiterhin zuständig für das Betreute Wohnen und konnte die Ambulantisierung weiter vorantreiben, auf aktuell mehr als 63%.

Aber es ging noch weiter mit dem Ziel, mehr Selbstbestimmung für behinderte Menschen zu organisieren. Im November 2007 gab der Verwaltungsausschuss grünes Licht für die Entwicklung der Personenzentrierung der Hilfen und eine neue Leistungsvergütung für alle Zielgruppen in der Eingliederungshilfe. Nach einem Praxistest und einer Pilotphase starteten 2008 bis 2011 die Pilotprojekte im Werra-Meißner-Kreis, dem Landkreis Fulda und der Stadt Wiesbaden, die Ende 2011 durch Beschluss des VA dauerhaft weitergeführt wurde. Zugleich wurde die Finanzierungssystematik wissenschaftlich untersucht. Nachdem diese Analyse das Konzept als tragfähig bestätigt hatte, wurde die schrittweise flächendeckende Einführung in ganz Hessen als Ziel beschlossen. Es folgten ein von der VV beschlossenes Handlungskonzept und ein sog. Verhandlungskonzept als weitere Meilensteine auf dem Weg zur Personenzentrierung.

Diese Vorarbeiten des LWV Hessen waren auch eine wesentliche Grundlage für die Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes. Viele von uns entwickelte Anliegen – die Personenzentrierung, Ermittlung von Wünschen und Zielen der behinderten Menschen, ihre Partizipation am gesamten Verfahren, die Berücksichtigung sozialräumlicher Aspekte und vieles mehr – wurden im neuen Gesetz für die Leistungsträger verpflichtend verankert. Gestützt darauf konnten auch LWV-interne Widerstände überwunden werden.

Eingebunden in das Projekt „Gesamtsteuerung Teilhabe“ wurde PerSEH faktisch umgesetzt, wie von seinen Initiatorinnen von Anfang an vorgesehen. Wenn wir nach dem Beschluss des neuen Rahmenvertrages 3 zum 01.01.2023 auch die neue zeitbasierte Finanzierungssystematik umgesetzt haben werden, wird ein lange Zeit verfolgtes Anliegen weitgehend umgesetzt sein. Was hier in dürren Sätzen geschildert wird, war ein über lange Zeit vorangetriebenes Herzensanliegen unglaublich vieler engagierter Menschen innerhalb und außerhalb des LWV. Initiiert und mit Kraft vorangetrieben wurde PerSEH vor allem von drei Frauen: meiner Vorgängerin als Erste Beigeordnete, Evelin Schönhut-Keil, die vormalige Dezernentin Monika Sippel und die zuständige Funktionsbereichsleiterin Barbara Oerder.
 
Nicht zuletzt im Projekt GSTH haben dann aber viele, viele Kolleginnen und Kollegen an der Umsetzung mit Engagement, Kreativität, Verhandlungsgeschick, Umsicht und großer Einsatzbereitschaft gearbeitet. Eine Fülle von Konzepten, Entwürfen, Eckpunktepapieren, Beschlussvorlagen, Organigrammen, Meilensteinen, Abstimmungen, Arbeitsgruppen, Projektgruppen, Arbeitspaketen, Evaluationen, Beratungsgesprächen usw. usf. wurden entwickelt, beraten, verworfen, neugestaltet, abgestimmt und beschlossen. Ohne unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch ohne die Mitwirkung der ehrenamtlichen Abgeordneten und Beigeordneten wäre dies nicht möglich gewesen.
Alle Beteiligten hier aufzuzählen, würde den zeitlichen Rahmen sprengen. Aber ich möchte auch an dieser Stelle allen ganz herzlich für ihren Einsatz danken. Sie haben es großartig gemacht.

Meine Damen und Herren,
hat sich die Lebensrealität behinderter Menschen verändert in den letzten Jahren, gibt es mehr Selbstbestimmung und Teilhabe. Eindeutig ja. Ich kenne noch die Zeiten, wo es in den Orten praktisch keine abgeflachten Bordsteine gab, außer an Grundstückseinfahrten für Autos. Als Rollstuhlfahrer in der Deutschen Bundesbahn im Gepäckwagen fahren mussten, Busse und Bahnen im Nahverkehr ihnen praktisch versperrt waren.

Ich weiß noch, dass Rollstühle und andere größere Hilfsmittel nicht von den Krankenkassen, sondern allenfalls vom Sozialamt bezahlt wurden. Die Beschulung behinderter Kinder in der Regelschule war absolute Ausnahme. In Behindertenheimen gab es Schlafsäle und Aufenthaltsräume für bis zu 30 Menschen, Gestaltung des Tages war ein Fremdwort. Wer Unterstützung im Alltag brauchte, fand diese fast ausschließlich in Heimen. Dort waren Selbstbestimmung, Individualität, eigene Wünsche praktisch unbekannt. Geistig behinderte Menschen wurden entmündigt, wenig gefördert und hatten eine geringe Lebenserwartung. Die heutigen Werkstätten für behinderte Menschen und auch die besonderen Wohnformen von heute sind mit denen von vor vierzig Jahren nicht mehr zu vergleichen. Und dass die sog. Ambulantisierungsquote von praktisch Null beim LWV auf annähernd 2/3 gestiegen ist, innerhalb der letzten 40 Jahre – vielleicht müssen wir uns manchmal vergewissern, wo wir herkommen, um die Fortschritte richtig einordnen zu können.

Haben wir daher alles erreicht und gibt es nichts mehr zu tun? Ganz im Gegenteil. Die von der UN-BRK geforderte aktive Mitwirkung behinderter Menschen an allem, was wir tun, ist noch längst nicht erreicht. Immer noch finden zu wenige behinderte Menschen den Weg von einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Angebote für Behinderte mit besonders herausforderndem Verhalten gibt es viel zu wenig.
Der Anstieg psychischer Beeinträchtigungen ist ungebremst, die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Sozialräume bieten immer noch viel zu viele Barrieren für behinderte Menschen, womit ich nicht allein die physischen Barrieren meine. Die Lebensverhältnisse für behinderte Menschen sind in den Regionen Hessens bei weitem noch nicht gleichwertig. Wir sehen: auch für die nächsten 40 Jahre gibt es für die Fraktionen in der Verbandsversammlung, gleich welcher politischer Farbe, und natürlich für Verwaltungsausschuss und Verwaltung noch genug zu tun.


Fotos: © Nicolas Wefers

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