Inklusion – Leitbild des LWV Hessen – Rede zur Verbands­versammlung

Michael Thiele

Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

der LWV als hessischer überörtlicher Kostenträger will sich ein Leitbild Inklusion geben.

Eines, das den Erfordernissen des Inklusionsgedankens Rechnung tragen soll und als Aufbruchssignal in eine neue Zeit, in ein neues Verständnis von Hilfen für behinderte Menschen, verstanden werden will. Nicht umsonst begreift der LWV sich als Motor der Inklusion.

Kann man heute schon beurteilen, ob es gelungen ist und nun für alle Zeiten gilt? Ich denke nicht!

Wir alle, die gesamte Gesellschaft steht am Beginn eines nachhaltigen dauerhaften Prozesses und nicht an seinem Ende. Wie lange es dauern wird, kann niemand seriös beantworten!

Eine Passage in dem Text macht es überdeutlich: Der LWV kann nur in seinem Zuständigkeitsbereich dafür sorgen, dass diese Thematik ernst genommen und mit Leben gefüllt wird und die Menschen nicht als Bittsteller gesehen werden, sondern als freie Bürgerinnen und Bürger.

Es geht um Menschen, die selbstverständlich ihren individuellen, persönlichen Unterstützungsbedarf abfragen und auch  bekommen. Ich denke, das ist das Mindeste was festgestellt werden kann.

Darüber hinaus sieht es schon schwieriger aus. Wer die Wahl hat, hat die Qual.

Solange es in dem Sozialgesetzbuch einen Kostenvorbehalt gibt, können stationär untergebrachte Menschen nicht wählen, ob sie lieber im betreuten Wohnen leben möchten oder nicht. Solange ein Haus keine Einzelzimmer hat, kann niemand mehr Privatsphäre wählen. Ohne Wahlmöglichkeiten keine?

Solange wir nicht überall auf körperbehinderte und auch auf sinnesgeschädigte Menschen in unserer Gesellschaft Rücksicht nehmen, werden diese Menschen genauso vor der Tür bleiben, wie sie es heute auch tun. Sie werden vor den Rathäusern stehen, nicht in die Restaurants und Arztpraxen kommen und keine geeignete Toilette in den Städten und Gemeinden finden.

Solange wir hierfür kein Verständnis entwickeln und unangenehme Wahrheiten auch zulassen, zum Beispiel über die Zusammenhänge von Armut und Bildungsferne, die erst zu Krankheit und dann zu psychischer Behinderung führen, wird es uns immer verwehrt bleiben, einen objektiven Blick auf die Gründe der gewaltigen Zunahme von Menschen mit einer seelischen Behinderung zu werfen.

Gesundheit und Krankheit sind Indikatoren über den Zustand einer Gesellschaft. Diese Ursachen immer weiter zu leugnen, wäre fatal.

Aber es gibt auch Fragen, die wir uns hier selbst stellen müssen: Ist es gerecht, dass einem behinderten Mensch die staatliche Unterstützung nur nachrangig gewehrt wird? Ist es gerecht ihm und seiner Familien diese Lasten aufzubürden? Wäre es nicht viel gerechter, den behinderten Menschen und auch ihren Familien die Lasten abzunehmen und das Leben erträglicher zu machen? Dies ist eines von vielen Beispielen und ähnlichen Fragen, die in den nächsten Jahren sicherlich diskutiert werden.

Eine Behinderung ist ein persönliches Schicksal, dies verlangt den Betroffenen und auch ihren Angehörigen eine Menge ab. Unsere Aufgabe durch die UN-Behindertenrechtskonvention ist es, die Nachteile, die dadurch entstanden sind auszugleichen und den Weg zurück in eine relativ inklusive Gesellschaft zu ebnen.

Wie Sie vielleicht wissen, engagiert sich unser Träger in vielen Ländern, unter anderem auch in der Türkei. Als herausragendes Projekt ist im Jahr 2008 die „Dreams Academy“ in der Türkei entstanden. Junge Menschen mit und ohne Behinderung versuchen mit Musik und Kunst Akzeptanz für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.

Als Leitbild dieses Engagements gibt es folgende Geschichte, die das heutige Thema gut rüber bringt:

„Es begann mit der Geschichte von einem Seestern: Ein junger Mann läuft am Strand entlang und wirft die gestrandeten Seesterne wieder ins Meer. Ein älterer Mann beobachtet ihn eine Weile und fragt warum er das tut. Jener antwortet, dass die Seesterne sterben werden, wenn sie am Strand liegen bleiben.

„Aber der Strand ist doch viele Meilen lang und vielleicht liegen hier Tausende. Was macht das für einen Unterschied, wenn du dich so bemühst?“ – fragt der Alte.

Daraufhin wirft der junge Mann den Seestern in seiner Hand in das Meer und sagt: „Für diesen einen hier, macht das einen Unterschied!“

Meine Damen und Herren, dieses Verständnis von der Bedeutung eines jeden einzelnen Menschen und sein Recht auf Würde und Chancengleichheit sind für so viele Kolleginnen und Kollegen und auch für uns der Antrieb in der Arbeit für Menschen mit Behinderungen.

Darum geht es, wenn wir von Inklusion sprechen!

Alle Akteure in diesen Hilfeprozessen und auch bei den jeweiligen Kostenträgern sind aufgerufen, Lösungen zu finden, die es den Menschen möglich machen ein selbstbestimmtes Leben zu führen und ihre Definition von Freiheit auch tatsächlich leben zu können.

Auch ich war ein wenig verwundert in dem „Leitbild Inklusion“ den Satz zu lesen: Selbstbestimmung bedeutet nicht grenzenlose Selbstverwirklichung. Glauben Sie mir, ich habe in den letzten Jahrzehnten niemand erlebt, dem es ausschließlich darum ging. Und wenn doch, sind wir dann die richtigen Menschen ihren Egotrip zu verbieten? Das können wir bei anderen sogenannten „normalen“ auch nicht. Er ist nur zu recht gestrichen.

Freiheit und Selbstbestimmung kann bei Menschen, die bislang ihr ganzes Leben von dem Rhythmus einer Einrichtung abhängig machen mussten, auch zu ungeahnten Überraschungen führen. 

Aber das ist dann doch gewollt!

Die personenzentrierten Leistungen werden das individuelle Budget eines jeden Menschen festschreiben. Aber wie er oder sie sich dann entscheidet, müssen wir doch den Menschen selbst überlassen.

Ich bin davon überzeugt, dass sich im Zuge dieses Prozesses die Landschaft der Angebote für Menschen mit Behinderungen sukzessive verändern wird. Allerdings dies wird weder automatisch noch ohne Debatten in den Einrichtungen erfolgen.

Streng genommen ist Inklusion die Endbeschreibung eines bestimmten gesellschaftlichen Daseinszustandes. Eines Zustandes, dem wir uns immer nur nähern werden, ohne ihn jeweils zu erreichen. Eine Herausforderung, das soziale Miteinander, welches durchaus im Gegensatz zu vielen gesellschaftlichen Grundregeln steht, wonach erfolgreich ist, wer Ellenbogen einsetzt ….

Wir alle brauchen Mut, diesen Weg zu gehen und die Menschen mit Behinderungen brauchen Ermutigung, um eigene, freie Entscheidungen zu treffen – durch uns und die Gesellschaft. Lassen Sie uns so gemeinsam vielen Seesternen eine Heimat geben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Michael Thiele
Fraktionsvorsitzender

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