Neuer Ansatz für mehr Psychotherapie in der Psychiatrie

Entwickelt in der Vitos Klinik Gießen-Marburg

Welche Rolle spielt eigentliche die Psychotherapie in der Psychiatrie? Auf die Frage wird heute zum Glück geantwortet: eine mindestens so große wie die pharmakologische Behandlung. Der Alltag vieler Psychiatrien ist dabei allerdings von einem störungsspezifischen Ansatz geprägt. Auch in der Psychiatrie herrscht offenbar das in der Medizin generell weit verbreitete Paradigma vor, sich nicht an der Gesundheit als Ziel zu orientieren, sondern an der Krankheit als zu therapierende Störung. Dass dies ein sehr erfolgreiches Paradigma ist, sei hier zugestanden. Die Spezialisierung auf Störungsbilder lieferte und liefert große Erkenntnisgewinne und brachte und bringt vor allem auch spezialisierte Therapieansätze hervor. Ein möglicher Nebeneffekt ist, dass es in bestimmten Regionen Deutschlands zu einer Häufung von speziellen Diagnosen kommt, da das dort angewandte diagnostische Repertoire zu einer entsprechenden Einordnung psychischer Phänomene führt, die andernorts womöglich anders eingeordnet und auch behandelt werden.

Der störungsspezfische Ansatz ist aber gleichwohl wegen der Fachexpertise segensreich, wie z.B. für Depressionen, Psychosen oder Borderline-Erkrankungen. Er bringt aber auch ein Organisations- und ein Therapieproblem mit sich, auf das der leitende Direktor der Vitos Klinik Gießen-Marburg, Prof. Michael Franz, aufmerksam macht und daher auch eine Erweiterung des psychotherapeutischen Verständnisses in der Psychiatrie auf den Weg gebracht hat. 

Das Organisationsproblem besteht darin, dass der Grad der Binnendifferenzierung in einer psychiatrischen Klinik nicht beliebig ausgeprägt werden kann. Neben Sucht und gerontopsychiatrischen Bereich, gibt es in der Allgemeinpsychiatrie nur begrenzte Möglichkeit der weiteren störungsspezifischen Unterscheidung – auch wenn störungsspezifische Schwerpunktbildungen zum Teil noch erweiterbar sind. Allerdings sind da auch Grenzen vorhanden, da viele Patienten und Patienten auch komorbide Krankheitsbilder aufweisen, also nicht nur eine psychische Störung und auch nicht unbedingt eine klar dominierende Störung haben. Übrigens kommt das bei den in Deutschland insgesamt an psychischen Krankheiten leidenden Menschen zu einem Anteil von rund 45% vor, dass diese mehr als nur eine Diagnose haben und daher auch einen größeren Leidensdruck. 

Hinzu kommt das Therapieproblem, die den Störungsbildern gerecht werden muss und das auch bei einem hohen Anteil an komorbid erkrankten Menschen. Und das besteht darin, dass es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedarf, die den Überblick über 100 psychiatrische Diagnosen und über 125 anerkannte therapeutische Programme haben und einen großen Teil auch anwenden können müssten. Das ist erkennbar im Kliniksalltag nur bedingt zu leisten.

Daher wird bei Vitos Gießen-Marburg ein neues psychotherapeutisches Modell entwickelt, dass breiter angelegt ist als bisherige Behandlungsansätze. Ziel ist es, nicht nur eine oder zwei Therapieeinheiten pro Woche anzubieten, sondern darüber hinaus ein psychotherapeutisches Setting zu schaffen, indem nicht nur die Medizin und Psychologie, sondern auch die Pflege, die Ergo- und Physiotherapie und er Sozialdienst einbezogen sind. Spannend daran ist auch, dass dabei nicht die Störung im Fokus steht, sondern die Kompetenzen und Ressourcen der Patentinnen und Patienten, die gestärkt werden sollen. Besondere therapeutische Module sollen helfen, fehlende oder gering ausgeprägte Kompetenzen aufzubauen.

Das Modell ist sehr vielversprechend, fordert aber auch ein anderes Selbstverständnis von allen Beteiligten. Vor dem Hintergrund der Arbeitszufriedenheit gerade auch von Pflege- und Therapiekräften könnte in diesem Ansatz ebenfalls etwas Vielversprechendes liegen: Sie erleben eine größere Anerkennung und Wirksamkeit ihrer Arbeit. Der Anspruch an das gesamte Team dürfte allerdings höher liegen und erfordert wohl einen längerfristigen Organisationsentwicklungsprozess, der mit einem guten Konzept nicht getan ist. Apropos Team: allein der Gedanke, dass Pflegekräfte, Ergos, Physios, Sozialdienst, Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapierende ein gleichberechtigtes Behandlungsteam bilden mit unterschiedlichen aber nicht eingeteilt in wichtigere und unwichtigere therapeutische Aufgaben, könnte wohl immer noch einige Widerstände hervorrufen.

Ein Beitrag von Dr. Karsten McGovern
Wahlkreis IV / Landkreis Marburg-Biedenkopf

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