Für eine menschliche, unbürokratische und tragfähige Eingliederungshilfe in Hessen

Standpunkt

Positionspapier der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im LWV

Einleitung

Die Eingliederungshilfe steht in Hessen vor erheblichen finanziellen, strukturellen und politischen Herausforderungen. Angesichts der öffentlichen Debatte, insbesondere der Darstellung der Eingliederungshilfe als viel zu teuer und deren Umsetzung als „Bürokratiemonster“, ist es dringend nötig, die grundlegenden Prinzipien und Werte des Systems zu verdeutlichen und einen vernünftigen Weg zu beschreiten mit den Herausforderungen umzugehen.

1. Individuelle Bedarfsermittlung ist gesetzlicher Auftrag und Voraussetzung für echte Teilhabe

Die Eingliederungshilfe ist seit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) konsequent auf Personenzentrierung ausgerichtet. Dies bedeutet, dass Hilfen nicht pauschal oder angebotsorientiert gewährt werden dürfen, sondern ausschließlich nach dem individuell festgestellten Bedarf.

  • Der individuelle Teilhabeplan ist das zentrale Instrument, um Bedarfe systematisch, transparent und rechtskonform festzustellen.
  • Er ist nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern verbessert nachweislich die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen, indem er ihre Lebenssituation, Ziele und Unterstützungsbedarfe in den Mittelpunkt stellt.
  • Individuelle Planung erkennt auch die Potentiale und fördert diese, damit Menschen selbständiger sein können.
  • Individualisierung ist keine Belastung des Systems, sondern der Kern moderner Teilhabepolitik. Daher ist es auch richtig, dass im Landeswohlfahrtsverband (LWV) fachlich kompetentes Personal für die Umsetzung sorgt und dieses nicht abgebaut wird, da vermeintlich damit Geld gespart wird.
  • Individualität heißt nicht, dass Hilfen teurer werden müssen. Erstens wird damit Überversorgung abgebaut und zweitens werden die Potentiale der Menschen mehr gefördert, wodurch in vielen Fällen auch Unterstützungsbedarf geringer ausfallen kann.
  • Wenn für Menschen mit komplexen und mehrfachen Beeinträchtigungen die Unterstützung verschiedener Dienste vorgesehen ist, kann dies für erhebliche personelle, koordinative und finanzielle Aufwände verursachen. Statt hier, wie es gerade gefordert wird, mehr Pauschalierung von Hilfen zu fordern und Personal für die Bedarfsermittlung und die Organisation der Hilfen abzubauen, ist die fachliche Kompetenz im LWV gefragt, um an den Bedarfen und Wünschen von Menschen mit Behinderung orientierte effizientere Hilfen organisieren zu können.

Die individuelle Bedarfsermittlung ist unverzichtbar. Sie sichert Selbstbestimmung, schützt vor Pauschalisierung, verhindert, dass Menschen mit Behinderungen in standardisierte Hilfeschablonen gedrängt werden, und sorgt für mehr Selbstständigkeit und weniger Hilfebedarf.

2. Die Eingliederungshilfe ist kein Bürokratiemonster

In der öffentlichen Debatte wurde zuletzt suggeriert, die Strukturen der Eingliederungshilfe seien übermäßig komplex oder ineffizient. Diese Darstellung greift zu kurz und verzerrt die Realität.

  • Das System folgt rechtlichen Vorgaben zur Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Wirtschaftlichkeit – diese schützen sowohl die Betroffenen als auch die Kostenträger.
  • Der LWV Hessen hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich Prozesse verschlankt, digitalisiert und professionalisiert. Schon im Jahr 2024 ist eine Vereinfachung der personenzentrierten integrierte Teilhabeplanung (PIT) in enger Abstimmung mit den Bedarfsermittelnden, den Leistungserbringern und den Verbänden für Menschen mit Behinderung Hessen auf den Weg gebracht worden.
  • Die gesetzlich gebotene Dokumentation dient nicht administrativen Selbstzwecken, sondern der Sicherung von Rechten und der Qualität der Leistungen.

Die Eingliederungshilfe ist kein Bürokratiemonster, sondern ein notwendiger, gut begründeter Rechtsrahmen, der Menschen mit Behinderungen und den Leistungserbringern Klarheit und Rechtsanspruch bietet.

3. Der Zukunftssicherungsbeitrag darf nicht zulasten der Betroffenen wirken

Die finanzielle Lage des LWV ist herausfordernd, und Diskussionen um einen sogenannten Zukunftssicherungsbeitrag sind verständlich. Jedoch müssen Reformen strikt an der Perspektive der Menschen mit Behinderungen ausgerichtet werden. Dabei sind die vorhandenen Spielräume der Leistungserbringer selbstverständlich zu berücksichtigen. Wenn Fachkraftquoten nicht eingehalten werden können, weil Personal fehlt, muss das in der Abrechnung auch berücksichtigt werden.

  • Kostendruck darf nicht zu Abstrichen bei der Qualität oder Individualisierung der Leistungen führen.
  • Ein Zukunftssicherungsbeitrag muss transparent ausgestaltet und neutral gegenüber den Leistungsberechtigten sein.
  • Leistungserbringer und Träger dürfen sich nicht auf einen Minimalkonsens verständigen, der auf eine Absenkung des Individualisierungsgrades oder eine Standardisierung von Hilfen hinausläuft.
  • Leistungserbringer sind gefordert ihre Abrechnungen an die Realitäten anzupassen.

Ein Zukunftssicherungsbeitrag darf niemals gegen die Interessen von Menschen mit Behinderungen ausgespielt werden. Einsparungen dürfen nicht durch eine Reduktion der Personenzentrierung erreicht werden. Gleichzeitig können Leistungserbringer sinnvolle Beiträge leisten.

4. Keine Zugeständnisse an Leistungserbringer auf Kosten der Individualisierung

Im Rahmen laufender Verhandlungen wird vereinzelt gefordert, Leistungserbringern entgegenzukommen, indem Anforderungen an individuelle Bedarfsermittlung oder die Umsetzung personenzentrierter Hilfen abgesenkt werden. Dies wäre ein gravierender Rückschritt.

  • Die Individualisierung ist nicht verhandelbar – sie ist Grundlage des BTHG und Voraussetzung für echte Teilhabe.
  • Standardisierte Hilfepakete oder die Rückkehr zu angebotsorientierten Strukturen würden Betroffene ihrer Rechte berauben.
  • Der LWV muss darauf bestehen, dass Leistungserbringer ihren vertraglich vereinbarten und gesetzlich geregelten Auftrag vollumfänglich erfüllen und muss daher auch von den Möglichkeiten des SGB IX § 128f Gebrauch machen.

Die Interessen der Leistungserbringer dürfen nicht gegen die Teilhaberechte der Menschen mit Behinderungen ausgespielt werden. Es darf keine Abstriche beim Grad der Individualisierung geben.

5. Warnung vor pauschalen Kürzungsdebatten und Irrwegen bei der Personalreduktion

Pauschale Kürzungsdebatten im Bereich der Eingliederungshilfe greifen zu kurz und übersehen die Komplexität individueller Unterstützungsbedarfe. Besonders die Forderung, Stellen abzubauen, die explizit für die Hilfebedarfsermittlung geschaffen wurden, ist fachlich nicht haltbar.

  • Die Stellen für Bedarfsermittlung erfüllen eine gesetzlich vorgeschriebene und fachlich unverzichtbare Funktion. Ohne sie kann individuelle Teilhabe weder bewertet noch gesteuert werden.
  • Ein Personalabbau in diesem Bereich würde keinen relevanten Einsparbeitrag liefern, da diese Stellen nur einen sehr geringen Anteil am Gesamtbudget der Eingliederungshilfe ausmachen.
  • Im Gegenteil: Eine professionelle, personenzentrierte Bedarfsermittlung führt in vielen Fällen zu Kostenreduzierungen, weil das individuell erforderliche Hilfesetting oftmals kostengünstiger ist als pauschale Standardangebote.
  • Beispiele hierfür sind individuelle Assistenzmodelle, ambulante Wohnformen oder gezielt kombinierte Unterstützungsbausteine, die günstiger und zugleich wirksamer sein können als ein klassischer Wohnheimplatz oder ein pauschaler Werkstattbesuch.

Eine Schwächung der Bedarfsermittlung führt nicht zu Einsparungen – sondern zu Fehlinvestitionen, höheren Folgekosten und schlechterer Teilhabe. Individualisierte Hilfen sind häufig wirtschaftlicher als pauschale Angebote.

6. Die Rolle des LWV als fachlich versierter Leistungsträger

Der LWV hat sich in den letzten 20 Jahren vom Kostenträger zum fachlichen Leistungsträger entwickelt. Seine Verantwortung geht weit über finanzielle Steuerung hinaus. Er stellt sicher, dass Menschen mit Behinderungen Leistungen erhalten, die ihrem individuellen Bedarf entsprechen, und schafft Rahmenbedingungen für eine qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Unterstützung.

  • Die Mitarbeitenden des LWV verfügen über hohe fachliche Kompetenz in Bedarfsermittlung, Teilhabeplanung und Leistungssteuerung.
  • Durch systematische Beteiligungsprozesse, Gespräche auf Augenhöhe und personenzentrierte Verfahren reflektiert der LWV die Perspektiven der Menschen mit Behinderungen zuverlässig.
  • Der LWV verfügt über einen breiten Überblick über die Vielfalt vorhandener Hilfen, deren Qualität, Wirksamkeit und regionale Besonderheiten. Diese Kenntnisse ermöglichen es, Hilfen zielgerichtet weiterzuentwickeln.
  • Zugleich gelingt es dem LWV, Wirtschaftlichkeit und Qualität gemeinsam zu denken: durch klare Zielsetzungen, fachlichen Austausch, regionale Abstimmungsprozesse und transparente Vereinbarungen mit Leistungserbringern.
  • Die Mitarbeitenden des LWV arbeiten engagiert, professionell und rechtskonform. Sie tragen Verantwortung dafür, dass Leistungen wirksam, wirtschaftlich und personenzentriert ausgestaltet werden. Der Vorwurf unnötiger Bürokratie oder fehlender Mitmenschlichkeit verkennt ihre wichtige Rolle und entspricht nicht der Realität.

Der LWV ist ein leistungsstarker, fachlich fundierter und verantwortungsbewusster Leistungsträger, der Qualität, Teilhabeorientierung und Wirtschaftlichkeit verbindet – getragen von engagierten und kompetenten Mitarbeitenden.

Schlussfolgerung

Die Eingliederungshilfe im LWV Hessen steht auf einem klaren rechtlichen Fundament: Personenzentrierung, individuelle Bedarfsermittlung und der Anspruch auf Teilhabe sind unantastbare Grundsätze, die sich aus dem Bundesteilhabegesetz ableiten. Sie sichern die Rechte und die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen. Finanzielle Herausforderungen dürfen nicht zu einer Abkehr von diesen Prinzipien führen. Teilhabe ist keine Gnade, sondern ein gesetzlich verankertes Recht. Jede Reform hat sich daher an der Frage zu orientieren:
Verbessert sie die Teilhabe – oder gefährdet sie sie? Aktuell besteht die Gefahr, dass angedachte Reformen diese gefährden.


Kassel, 23. November 2025