Den Opfern einem Namen geben

Gesellschaftlich stigmatisiert, bürokratisch/ verwaltungstechnisch erfasst, zwangssterilisiert und sodann final vergast – das war das Schicksal von über 200.000 Menschen mit Behinderungen zwischen 1940 und 1945. Allein in der Euthanasiestätte Hadamar wurden annähernd 15.000 Menschen mit Behinderungen ermorde. In den Übergangseinricht­ungen wie Eichberg, Herborn, Weilmünster usw. starben ebenfalls Tausende.

Der Landeswohlfahrtsverband als Nachfolgeorganisation der ehemaligen Euthanasiestätten hält das Gedenken und die Erinnerung an die Opfer hoch. Schon frühzeitig wurde sich mit dieser dunkelsten Geschichte Deutschlands aktiv auseinander gesetzt. Die Gedenktafel in Hadamar von 1958 zeugt davon.

Immer wieder fragen wir uns: Wie war das möglich? Steht dies doch im krassen Widerspruch zur humanitären Tradition Mitteleuropas. Dieser kulturelle Bruch war ideologisch gut vorbereitet und konnte mehr oder weniger im Verborgenen, im Stillen umgesetzt werden. Einen großen Anteil an dem, dass dieses möglich wurde, hatte die Scham, welche Familien verspürten, die ein Kind mit Behinderung auf die Welt brachten. Früher war dies noch ausgeprägter. Es ist ein ethnologisch wahrscheinlich sehr tiefsitzender Moment, Scham empfinden zu müssen, wenn ein Mitglied in der Familie einen genetischen oder sonst wie gearteten Defekt hat. Das sitzt sehr tief. Nur so ist zu erklären, warum es im Gegensatz zu den Opfern des Holocaust eine besondere Behandlung im Umgang mit den Opfern der Euthanasie gab. Wollte man doch den Familien die Peinlichkeit ersparen, eine Namensnennung zu ertragen. Dies ist sehr deutlich an den alten Logos der Behindertenverbände aus den 60er und 70er Jahren, die häufig – man achte z. B. auf das der Lebenshilfe – einen sehr schützenden, umarmenden, behütenden Charakter hatten, zu sehen.

Das, meine Damen und Herren, hat sich mittlerweile geändert.

Der Gedanke der Integration, später der Inklusion, des Empowerments hat dazu geführt, dass es immer weniger als Stigma gilt, behindert zu sein, und dass eher die Gesellschaft verantwortlich ist, ihren Beitrag dazu zu leisten, dass diese Menschen in unserer Mitte leben. So treten Menschen mit Behinderungen weitaus selbstbewusster und selbstverständlicher in unserem Leben in Erscheinung.

Heute, über 70 Jahre danach, gibt es wenige direkte Anverwandte, die die Opfer noch kannten und es gibt wenige Zeitzeugen. Umso wichtiger ist es, in unserer Gedenkstätte in Hadamar, an den Gedenkorten, das Gedenken an die Opfer, die Ursachen und deren Wirkung wachzuhalten, die Arbeit in der Gedenkstätte nachhaltig zu unterstützen und gerade jungen Menschen dieses Thema zugänglich zu machen.

Erfreulicherweise entwickelt sich die Gedenkstättenarbeit in Hadamar ausgesprochen positiv, die Nachfrage nach Führungen, die Frequenz der Besuche ist weiterhin kontinuierlich ansteigend und es ist notwendig, dass vor Ort etwas passiert. Eine moderne Ausstellung, eine Erweiterung, neue, museumspädagogische Konzepte müssen in diese Ausstellung eingearbeitet werden. Es muss mehr Platz geschaffen werden, damit mehr Führungen durchgeführt werden können. Heutzutage ist es nur möglich, dass eine oder Maximum zwei Gruppen zur selben Zeit betreut werden. Zukünftig muss es möglich sein, dass drei bis vier Gruppen hier entsprechend gleichzeitig geführt werden können. Es wird Zeit, den Betroffenen ihre Namen zurück zu geben. Alle Familien, die wegen der Namensnennung angefragt wurden, stimmten dieser in der Vergangenheit zu.

Ich bitte um Ihre Unterstützung, lassen Sie uns den Euthanasie-Opfern ihren ganzen Namen geben, um das Andenken und die Erinnerung an ihre Ermordung wachzuhalten.

In der nächsten Legislatur wird es hier eine Partei geben, die AfD, die möglicherweise mit einem anderen Zungenschlag dieses Thema behandeln wird. Lassen Sie uns diese Abstimmung einstimmig gestalten. Dies wäre ein gutes Zeichen für die Zukunft. Vielen Dank!

Michael Thiele
Fraktionsvorsitzender

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